Bodenständiger Avantgardist

„Original thinker“: Am Sonntag gastiert mit Archie Shepp der revolutionärste Vertreter des Jazz-Traditionalismus in der Fabrik

von TOBIAS RICHTSTEIG

Er gehört zum harten Kern jener Musik-Revolutionäre, die in den 60er Jahren unter dem Schlagwort Free Jazz die musikalischen Konventionen aufbrachen. Und er ist einer der kenntnisreichsten und interessantesten Interpreten der Tradition im Jazz, die gerne als „Mainstream“ für künstlerisch irrelevant gehalten wird: Archie Shepp, der am Sonntag wieder einmal in der Fabrik auftritt, findet im BeBop und den modalen Konzepten des HardBop eine gültige Form für den Ausdruck einer originären schwarzen Kultur.

Dabei trennt den ehemaligen Free Jazzer einiges von dem Neo-Traditionalismus, mit dem Wynton Marsalis in den frühen 90er Jahren zum Liebling des Publikums wurde. Gegen dessen Arbeit als Kurator des Konzertprogramms „Jazz at Lincoln Center“, das den Free Jazz ebenso kategorisch ausgrenzt wie den späten Miles Davis, verwahrt sich Shepp mit deutlichen Worten: „Ich bin ein original thinker. Ich entscheide, was für mich politisch korrekt ist, und nicht die Medien oder ein Negro, der festlegt, was für andere Negroes korrekt sei.“

Auch mit knapp 66 Jahren ist Archie Shepp noch für Kontroversen zu haben. In den 60er Jahren forderte er, den Marketing-Begriff „Jazz“ durch die ehrlichere Bezeichnung „Black Music“ zu ersetzen. Seine Argumente erinnern dabei an Adornos Verdikte gegen den Jazz, dessen marktgängige Gleichförmigkeit nur scheinbar Freiheit verspreche. Im Blackness-Konzept des Gangsta-Rap erkennt Shepp eine moderne Minstrel-Show, aber kein schwarzes Selbstbewusstsein, wie es Ziel und Triebkraft von Black Power-Bewegung und Jazz gewesen war.

Dabei war Archie Shepp beinahe zufällig zum Free Jazz gekommen. In seiner Heimatstadt Philadelphia hatte er als 16-Jähriger mit Lee Morgan und Reggie Workman in einer R‘n‘B-Band gespielt und mit dem HardBop-Pianisten Bobby Timmons die Grundlagen des Jazz erlernt. Als er gegen Ende der 50er Jahre nach New York kam, spielte er in Sessions mit Kollegen wie Freddie Hubbard im Stil der Zeit. Seinen ersten bezahlten Job als Musiker verschaffte ihm aber erst 1960 eine Schallplatten-Aufnahme mit Cecil Taylor.

Seitdem galt Shepp als Revolutionär, seine solide Spieltechnik und sein stark bluesgeprägter persönlicher Ausdruck wurden von Kritik und Kollegen nicht mehr ernst genommen. Von Cecil Taylor und John Coltrane beeinflusst, wurde Shepp zu einem „der eigenwilligsten Saxophonisten des Free Jazz“, wie der Jazz-Wissenschaftler Ekkehard Jost bemerkte. Gleichzeitig blieb sein Beitrag der bodenständigste und am wenigsten abstrakte der Avantgarde-Bewegung.

Shepp, der Theaterwissenschaft und Literatur studiert hatte, behielt die soziale und politische Dimension des Jazz im Auge und bemühte sich darum, auch ein breiteres Publikum zu erreichen. „Wir müssen die Musik des Volkes spielen können, sonst sind wir nichts anderes als bourgeoise Snobs.“ Mitte der siebziger Jahre begann er, die Geschichte der schwarzen Musik und Literatur zu lehren, und noch heute ist er ist Professor am Black Studies Department der Universität in Amherst, Massachusetts.

Und er überraschte mit der Rückkehr zu den herkömmlichen Formen des Jazz: In der Tonsprache von Bebop und HardBop entwickelte Shepp seine persönliche Spielweise weiter und blieb auch in der kontinuierlichen Fortführung der Jazz-Tradition unüberhörbar ein Individualist. Schon in den Free Jazz-Tagen gehörten zu seinem Repertoire Balladen und vermeintlich schlichte Broadway-Hits. Tief im Blues und Gospel verwurzelt, ist sein voller Saxophonton geradezu körperlich greifbar. Mit expressiver Phrasierung scheint er die alten Standards dramatisch zu erzählen.

In den letzten Jahren veröffentlichte er einige bemerkenswerte Aufnahmen mit dem Kahil El‘Zabar Ritual Trio, in Trios mit David Murray und Richard Davis oder mit Jean-Paul Bourrelly und Henry Threadgill und schließlich mit dem Free Jazz-Posaunisten Roswell Rudd. Zum Konzert in der Fabrik ist Archie Shepp allerdings mit seinem langjährigen Quartett angekündigt: mit Tom McClung (p), Wayne Dockery (b) und Steve McRaven. Beste Gelegenheit, einen der interessantesten Musiker des Jazz einmal live zu erleben – mit kongenialen Kollegen und einer einzigartigen Fusion von Tradition und Revolution.

Sonntag, 21 Uhr, Fabrik