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Archiv-Artikel

Das Bröckeln des Titanen

Nach dem 1:1 gegen Real Madrid startet Bayern München ein sofortiges Wiederaufbauprogramm für Torhüter Oliver Kahn, dessen fataler Fehlgriff sein Team um den verdienten Sieg brachte

AUS MÜNCHEN JOACHIM MÖLTER

Am Dienstagabend hat der Fußball-Torwart Oliver Kahn wieder einmal eine Mannschaft vor einer Niederlage bewahrt, das tut er ja oft in Diensten seines Klubs FC Bayern München oder der deutschen Nationalelf. Nur war es diesmal Real Madrid, dem er das 1:1 rettete im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League. Oliver Kahn ließ einen Ball ins Tor des FC Bayern kullern, von dem er später selbst sagte: „Den kannst du ja halten, wenn du ohne zwei Arme und ohne zwei Beine spielst.“ Warum er es trotz vollzähliger Gliedmaßen nicht schaffte, blieb sein Geheimnis. „Es war kein Blackout, ich kann die Situation erklären, aber ich bin es leid.“

Der Mann, den sie Titan nannten, konnte einem ja auch leid tun. 82 Minuten lang hatte der FC Bayern das spanische Starensemble vorgeführt, wie man es nie erwartet hätte nach den jüngsten Vorstellungen, aber bloß 1:0 geführt durch ein Kopfballtor von Roy Makaay (75. Minute), und Kahn hatte so gut wie nichts zu tun gehabt. Er hielt ein Schüsschen von Ronaldo (45.) und fing ein paar Eckbälle. Dann trabte Madrids Verteidiger Roberto Carlos an zum Freistoß aus dreißig Metern, es war das einzige Mal, dass bei Real nicht David Beckham gegen den ruhenden Ball trat. Roberto Carlos hatte früher mal einen Furcht einflößenden, wuchtigen Schuss, am Dienstag brach das Unheil eher gemächlich über den FC Bayern herein. Aber auch so „können sich Welten ändern innerhalb von Zehntelsekunden“, wie es Oliver Kahn anderntags formulierte. Er lag schon fast am Boden, als er den Ball zu fassen bekam, er wollte ihn mit rechts zu sich heranziehen, stattdessen drückte er ihn unter seinem Körper hindurch ins Tor, zwischen Brust und Boden, da wo eigentlich schon gar keine Lücke mehr war.

Selbst in der Kreisliga lacht man Torhüter aus, denen so etwas passiert, und Lothar Matthäus, der neue Nationaltrainer Ungarns, der sich sichtlich freute, von einem deutschen Fernsehsender mal wieder um seine Meinung gefragt zu werden, verkündete: „Das ist eine gerechtfertigte Kritik an Kahn. Man kann ihn ja nicht loben für das, was er gemacht hat.“ Das stimmt, andererseits hat niemand Oliver Kahn kritisiert. Die Madrilenen sowieso nicht, ihr Trainer Carlos Queiroz sagte nur lapidar, „Fußball ist ein Spiel der Fehler“, und sein Mittelfeldmann Luis Figo, einer von vielen Fehlermachern Reals im Olympiastadion, sagte mitfühlend: „Ich denke nicht, dass es ihm gut geht jetzt.“

Nicht einmal aus den Reihen des FC Bayern München war ein Vorwurf an den Mannschaftskapitän zu hören. „Ohne ihn wären wir überhaupt nicht im Achtelfinale“, erinnerte Trainer Ottmar Hitzfeld an frühere Heldentaten von Oliver Kahn. Karl-Heinz Rummenigge, der Vorstandsvorsitzende der FC Bayern AG, pflichtete bei: „Er hat uns schon so viele Spiele gewonnen, und ich bin überzeugt, dass er uns auch das Rückspiel in Madrid gewinnen wird.“ Spielmacher Michael Ballack sagte: „Das passiert im Fußball, da muss man durch.“

Die kollektive Bagatellisierung von Kahns kapitalem Fehlgriff gehört offenbar zu einem sofortigen Wiederaufbauprogramm für den Torhüter, das unmittelbar nach dem Abpfiff gestartet wurde und an dem sich auch DFB-Teamchef Rudi Völler beteiligte. Sie alle brauchen Oliver Kahn noch – für den Rest der Bundesliga-Saison die einen, für die Europameisterschaft in Portugal der andere. Kahn war ja tatsächlich am Boden nach dem Ausgleich, einen Moment lang sah es so aus, als wollte er sich mit den Zähnen ein Loch ins Gras fressen und darin verschwinden. Aber er stand dann doch selbst auf, fraß wie gewohnt den Ärger in sich hinein und entschwand erst später wortlos in das Dunkel der Nacht. Was hätte er auch sagen sollen in den ersten Momenten? Seinen Standardspruch: „Immer weiter, weiter, weiter“? Bloß nicht!

Erst vorige Woche beim Länderspiel gegen Kroatien hatte er ein Gegentor verschuldet, aber da ging es um nichts und am Ende gewann das DFB-Team ja 2:1. Am Dienstag ging es um viel Geld, das die weitere Teilnahme an der Champions League beschert. Vor allem aber geht es allmählich um Kahns Reputation, um die Frage, ob er seinen Mannschaften nicht schadet mit seinem Ehrgeiz, immer spielen zu wollen, notfalls ohne Arme und Beine. Das Tor am Dienstag erinnerte an seinen Fehlgriff im WM-Finale 2002 gegen Brasilien (0:2). Damals spielte Kahn trotz einer Fingerverletzung weiter, gegen Kroatien und Madrid tat er es trotz Rückenproblemen. „Ich will jetzt in mich gehen und meine Schlüsse ziehen“, versprach Oliver Kahn am Aschermittwoch, reuig wie ein Sünder. „Und dann werde ich das Rückspiel in Madrid eben alleine gewinnen.“