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Archiv-Artikel

Vom Verschlucken der Welt

In einer Hölle ohne Liebe: William Forsythe verabschiedet sich und seine Compagnie im Triumph von Frankfurt am Main. „Decreation“ heißt seine letzte Inszenierung im Bockenheimer Depot – eine vielstimmige Klage über heimatlose Körper

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Heulen und Zähneklappern. Jaulen und Miauen. Sprachzertrümmerung. Kontrollverlust. Irgendwo in den sieben Kreisen von Dantes Inferno könnte dieser Ort liegen, an den William Forsythe uns in seinem Stück „Decreation“ führt.

Dorthin, wo die Körper sich selbst nicht mehr gehören und die Glieder wie von Stromstößen getrieben zappeln und sich um den Körper werfen. Dorthin, wo das Ich keine Mitte mehr hat. Wo die Seelen sich jammernd wieder und wieder durch die Erinnerung winden, wie das war, als die Liebe verloren ging. Wo Anklage und Schuld alles sind, was vom Begehren geblieben ist.

„I give you everything. You give me nothing.“ Diese Sätze, Silbe für Silbe, setzt ein Mann mühsam zusammen aus dem langgezogenen, wie von Wind und Wasser verzerrten Klang, den eine Frau aus ihrem Kör- per bricht, bis sich ihr Nabel fast an ihre Wirbelsäule presst. Als ob dieser einer Gedanke alles wäre, was noch an Leben in ihr ist.

Ist dies Tanz, ist dies Theater? Mehr denn je überwindet William Forsythe mit einem Ensemble aus 16 großartigen Tänzern, die alle in der offenen Halle des Bockenheimer Depots über eine Stunde fast immer gegenwärtig sind, die Trennung zwischen den Bühnensprachen. Denn in „Decreation“ entdeckt er die Stimme als Instrument und Material. Da gibt es nicht nur den Text, Fragmente eines Opernlibrettos der kanadischen Lyrikerin Anne Carson: Dialoge des Streits, Beschimpfungen und Erpressungen, Geständnisse und Verdammnisse, die, wieder- und wiederkehrend, von Mund zu Mund wechselnd, ritualisiert und zur Form werden. Sprache wird hier choreografiert und als Material komponiert wie Bewegungen. Mindestens ebenso sehr wie der Inhalt aber prägt die Situationen, wie die Stimmen die Artikulation verlieren, wie sie ins Jaulen und Wimmern entgleisen, wie einzelne Silben sich plötzlich, von Richtmikrofonen eingefangen und elektronisch weiterbearbeitet, zu Ungetümen aufblasen. Andere Sätze dagegen werden klein und quietschend und flitzen den Sprechenden wie Mickymäuse um die Füße.

All diese Manipulationen des Klangs, die sich mit den sparsamen Keyboard-Tönen von David Morrow oft zu einer chorischen Klage, einem wutbrausenden Sound oder selbst zu aggressiven Formationen mischen, verstärken die Erfahrung der Verzerrung. Hier ist alles out of focus. Überforderung und Desorientierung bilden die Grundstimmung. „Dieses Durcheinander von Verwirrung und Schmerz ist unser Leben. Unsere so genannte Freiheit. Unsere so genannte Liebe. Ich hasse es“, lauten einige der ersten Sätze. Ein hyperaktives Gezupfe bestimmt die Bewegungen, die klein, kurz und zerhackt dauernd die Richtung wechseln, kein Ziel fassen können, aus der Bahn gehauen werden, abrutschen, weggleiten. Hysterie. Panik. Gewusel. Konzentration, Wahrnehmung des anderen, ist nicht mehr möglich, und diese Unfähigkeit macht ihre Hölle aus.

Es gibt Szenen, da wird es probiert: den Anderen zu sehen. Aber das gelingt nur mit großem Aufwand, mit Hilfe von außen: Die Hände Dritter drehen die Köpfe, lenken die Blicke, steuern die Berührungen. Das sind traurige und zugleich anrührend komische Momente, eine therapeutisch begleitete Intimität.

Der Zuschauer muss sich in diesen wimmelnden Bildern, die in der Polyphonie der Ereignisse an Darstellungen von Bosch oder Breughel erinnern, selbst entscheiden, was er verfolgen will. Das Licht hebt in dem langen Schiff der großen Halle nichts hervor. Oft existieren verschiedene Zustände von Energie nebeneinander: Ein Dialog über die Forderung nach Nähe und ihre Verweigerung findet zwischen einem Mann statt, der ruhig auf einem Stuhl sitzt, und einem, der direkt daneben mit einem Dritten tanzt, in extremer Sensibilität auf jede von dessen Wendungen reagiert, jeden Impuls aufnimmt und weiterträgt. So legen sich in Sprache und Bewegung zwei gegensätzliche Bilder übereinander und aus solchen Widersprüchen gewinnt „Decreation“ oft seine Spannung.

„Decreation“ ist voraussichtlich die letzte Produktion, die William Forsythe für das Frankfurter Ballett entwickelt hat – es wird zum Ende der Spielzeit 2004 aufgegeben. Zu verstehen ist das nach wie vor nicht, steckt doch in jedem Forsythe-Stück so viel innovatives Potenzial, wie man sonst in Theater und Tanz lange suchen muss.

„Decreation“, der Titel deutet eine Rücknahme der Schöpfung an, ein Wieder-Einsaugen und Verschlucken der Welt. Im Stück scheint es das Versagen der Liebe, das so zerstörerisch wirkt. Die Bilder, die Forsythe dafür findet, sind aber in ihren visuellen und literarischen Konnotationen auch von einer starken Strömung durchzogen, die um den Verlust des Glaubens (oder des Vertrauens in die Menschen) klagt. Etwas wie die Sehnsucht nach Erlösung und mystischer Entgrenzung scheint durch die Szenen. Ganz scharf und ganz eindeutig ist dies nie, aber gerade in seiner Latenz umso beunruhigender. Heimatlos gewordene Körper – dass dieses Thema für eine Compagnie, die abgeschafft wird, auch noch ganz andere Gründe haben mag als eine allgemeine gesellschaftliche Befindlichkeit, sei dahingestellt.