SCHRÖDER UND SOMMER RINGEN UM MORALISCHE DEUTUNGSHOHEIT : Am 1. Mai gibt’s Kasperletheater
Die Hauptkundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zum 1. Mai in Neu-Anspach wird eine Sonderaufführung: Bundeskanzler Gerhard Schröder und DGB-Chef Michael Sommer treten beide dort auf – und statt des üblichen Schulterschlusses könnten die Auftritte zum Kasperletheater werden, in dem sich beide Repräsentanten wie Kasperl und Seppl rhetorisch gegenseitig von der Bühne zu schubsen versuchen. Beide Redner werden vordergründig über die Sozialreformen sprechen – tatsächlich aber geht es um die Frage, wer sich am überzeugendsten als derjenige darstellen kann, der das Allgemeinwohl vertritt.
Schröder hat dabei den Vorteil, als Regierungsverantwortlicher auftreten und damit letztlich immer auf die allgemeinen finanziellen Zwänge verweisen zu können, derentwegen man leider, leider das Arbeitslosengeld kürzen müsse. Die Gewerkschaften würden ja naturgemäß die Interessen ihrer Mitglieder vertreten, so Schröder unlängst väterlich, deswegen müsse die „Definition dessen, was Gemeinwohl ist, bei der Politik bleiben“. Nur vertritt der Kanzler eben auch immer die Interessen von Mehrheiten, die ihn gewählt haben.
DGB-Chef Sommer kann demgegenüber zwar den Robin Hood spielen und gegen jede Sozialkürzung wettern. Aber es reicht nicht, eine höhere Verschuldung zu fordern oder die Wiedereinführung der Vermögensteuer. Damit werden die großen finanziellen Probleme der Sozialversicherungen in Zukunft nicht gelöst – und je mehr Sommer so tut, als wisse er das nicht, desto unglaubwürdiger wirkt er.
Den Kampf um die moralische Deutungshoheit können beide Seiten nicht gewinnen. Nur hat der Kanzler die größere Macht. Und je zuversichtlicher sich ein SPD-Kanzler zeigt, künftig ohne die Zustimmung der Gewerkschaften regieren zu können, desto schwächer wirken die Arbeitnehmervertreter. Und dies umso mehr, wenn sie diese Schwäche durch brausende Rhetorik auszugleichen versuchen. Der neueste Akt in diesem Drama lässt sich morgen besichtigen, bei den Reden zum 1. Mai. BARBARA DRIBBUSCH