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Archiv-Artikel

Ich und die Lust und sonst nichts

Michel Onfray bringt das „widerständige Leben“ gegen Interessengebundenheit in Stellung. Ausgerechnet die Bioethik soll einer politischen Erneuerung der Linken dienen

Michel Onfray, der Volkshochschullehrer und Autor von rund 30 philosophischen Büchern in 15 Jahren, schätzt klare Ansagen: „Der Beweis des Philosophen? Sein Leben. Ein ohne philosophische Lebensführung verfasstes Werk ist keine Sekunde der Anstrengung wert.“

Ein Denken, das sich Philosophie nicht ohne autobiografischen Roman vorstellen kann und diesen als Voraussetzung für jene sieht, ist allemal ein riskantes Unterfangen, bei dem die Philosophie buchstäblich auf der Strecke bleiben oder auf den Hund kommen kann.

Wie ernst es Onfray mit dem Verhältnis von Philosophie und Leben meint, belegt das Vorwort seines Buches. Auf gut 50 Seiten erzählt er sein Leben in einem katholischen Waisenhaus zwischen seinem 10. und 14. Lebensjahr. Onfray war keineswegs Waise, sondern auf Betreiben seiner Mutter und unter Duldung seines Vaters buchstäblich ausgesetzt. Im Laufe seines Lebens erfuhr Onfray, dass seine Mutter ihrerseits ein ausgesetztes Kind war.

Die Lektüre des Textes über seine Erfahrungen im Waisenhaus zwischen 1969 und 1973 hat etwas Beklemmendes. Die sadistischen Mönche ließen nichts aus: verbale Demütigungen und Erniedrigungen, brutale körperliche Erziehungsrituale und Schläge waren an der Tagesordnung. Der Autor schildert, wie ihm das Leben zur „Hölle“ wurde. Er besteht darauf, dass diese Erfahrungen „den Schlüssel“ zu seinem Werk bilden.

Der bekennende Materialist, Hedonist und antichristliche Nietzscheaner Onfray ist nicht nur wortgewaltig, sondern auch ein Meister im Ausschütten von Kindern aus allen erreichbaren Badewannen. Seiner einfachen vitalistisch-hedonistischen Logik und der Popularphilosophie Nicolas de Chamforts folgend, heißt Leben, „genießen und Genuss gewähren“ beziehungsweise „freue dich und mache anderen Freude“. Die simple Maxime gilt Onfray als ausreichende normative Grundlage für seine Theorie des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Recht und Menschenrechte fallen ebenso dem pauschalen Verdikt der Lebensfeindlichkeit oder heteronomen Interessengebundenheit anheim wie alle universalistischen Ethiken oder moralischen Universalismen.

Der Sündenfall ereignete sich nach Onfray mit Platons Unterscheidung von Wesen und Erscheinung beziehungsweise mit der christlichen Trennung von Seele und Leib. Er bezichtigt fast die ganze abendländische Philosophie der Befangenheit in der „Wahnvorstellung eines Denkens ohne Gehirn, einer Reflexion ohne Körper, einer Philosophie ohne Leiblichkeit.“

Sein Gegenprogramm stützt sich auf den Materialismus, Hedonismus und Relativismus der Antike von Demokrit über Epikur bis zu den Sophisten. Er zielt auf eine „körperliche Vernunft“ in utilitaristischer und pragmatischer Absicht.

Onfray verfährt nicht zimperlich, sondern macht kurzen Prozess mit allem und allen – mit Gott, Religion, Moral, Familie, Recht, Staat, Gewerkschaften, Parteien und all dem, was er sonst noch für platonische oder christliche Fiktionen hält. Am Schluss bleibt ihm nur noch das Ich als „Bildhauer seiner selbst“: „Allein dieses Ich ermöglicht die Deklination der Welt? Allein die Kraft eines Ich gibt das Recht zur Entwicklung einer Moral.“

Dabei beruft er sich auf ein „ethisches Gehirn“, das – in Zukunft – von einer angeblich veränderbaren neuronalen Struktur gesteuert werden soll. Onfray plädiert für eine „promethische Bioethik“, durch die der vom Christentum geteilte und verletzte Körper „auf der Suche nach seiner Erlösung“ wieder „die Einheit eines Monismus“, seine ursprüngliche Natürlichkeit und Materialität erlange. In dieser rigoros naturalistischen Zuspitzung wird Lust zur „Physik des Materiellen und Mechanik der Flüssigkeiten“. Weist der Körper Defizite auf, kann mit Klonen, Gehirnchirurgie oder Genverbesserung nachgeholfen werden.

Man könnte über solchen rabiaten Naturalismus lachen, wenn Onfray die Bioethik und das reproduktive Klonen nicht ausgerechnet für die politische Erneuerung der Linken gegen den überall herrschenden „Mikrofaschismus“ in Stellung brächte. Die intellektuelle Hochstapelei sowie das Schwadronieren vom „widerständigen Leben“ erweisen sich als billige Jetons.

Gegen Ende des Buches geht es nur noch um „kleine Inseln“, „epikureische Gärten“ und eine „Politik der kleinen Schritte – aber immerhin Politik.“ Der Tiger-Autor landet als Bettvorleger und sein Buch in Geschwätzigkeit.

RUDOLF WALTHER

Michel Onfray: „Die reine Freude am Sein. Wie man ohne Gott glücklich wird“. Aus dem Französischen von Helmut Reuter. Piper Verlag, München 2008, 272 Seiten, 16,90 Euro