: Süße Romantik und rauhes Mittelalter beim Schlachte-Zauber
Bremen hat inzwischen auch, was andere haben: Einen „Mittelalter-Markt“ vor Weihnachten. „Fogelvrei“ liefert die Show nach Wunsch. Die Menschen wollen offenbar viel Romantik, konstatiert der Bremer Historiker Jan-Ulrich Büttner: „Was man da sieht, hat mit dem Mittelalter, so wie ich mir das vorstelle, wenig zu tun.“ weihnachtsfest war keineswegs das höchste christliche fest, sondern Ostern, also die kreuzigung und auferstehung
Interview: KLAUS WOLSCHNER
taz: Herr Büttner, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie über einen Mittelaltermarkt gehen?
Jan Ulrich Büttner: Das ist schon eine Weile her. Was man da sieht, hat mit dem Mittelalter, so wie ich mir das vorstelle, wenig zu tun. Sicherlich sind da viele mittelalterliche Elemente enthalten. Wir beschäftigen uns in der Wissenschaft, selbst wenn wir uns Alltagsgeschichte betreiben, weniger mit den Dingen, mit denen die Schausteller zu tun haben.
Das Mittelalter-Spektakel macht dem Publikum Spaß. War das immer schon so?
Das Mittelalter hätte vermutlich wenig Spaß daran, sich das Mittelalter anzugucken. Märkte und Festivitäten waren im Mittelalter sehr vielfältig, es gab auch viele Arten von Festen, in denen die einfachen Leute in den Städten und auf dem Land einbezogen waren. Der heutige „Mittelalter-Markt“ versucht aber gar nicht, eine mittelalterliche Festkultur nachzuleben, sondern Ausschnitte aus dem Alltag in Städten vorzuführen, am ehesten einen Wochenmarkt vermutlich. Das hat mit den historischen Festen und Inszenierungen wenig zu tun. Die Erforschung dieser Ereignisse hängt sehr stark davon ab, was für Quellen es gibt, neben Ausgrabungsfunden sind allerlei schriftliche Zeugnisse wichtig.
Gibt es etwas, was richtig falsch ist an unseren Mittelalter-Märkten?
Dafür müsste man Sicherheit darüber haben, wie Märkte im Mittelalter gewesen sind. Generelle Aussagen kann man zudem nicht treffen, weil die regionalen und zeitlichen Unterschiede enorm waren. Wenn es etwas in Hamburg gegeben hat, dann muss es das in Verden oder in Bremen nicht gegeben haben oder nicht in dieser Form. Schon in dem Anspruch „Mittelaltermarkt“ steckt eine Generalisierung, die für sich genommen nicht zu erfüllen ist.
Seit dem 14. Jahrhundert haben sich um religiösen Feierlichkeiten herum Kaufleute gruppiert, die ihre Waren verkaufen wollten. Ist das nicht eine Tradition unserer heutigen Weihnachtsmärkte?
Die Märkte zu Festtagen und zu kirchlichen Festtagen sind sehr alt. Heute machen wir da eine Trennung: Ein kirchliches Fest findet in der Kirche statt und hat in der Regel nur etwas Religiös-Rituelles. Im Mittelalter war es üblich, dass Kirchenfeste auch aus der Kirche raus gingen und weltliche Feste in die Kirche hinein gingen. Das hat sich gegenseitig befruchtet in der Festkultur. Im Winter gab es Narrenfeste, die von Klerikern durchgeführt wurden, zu denen die Eselsmessen gehörten, in denen ein als Esel kostümiertes Kind oder ein Jugendlicher durch die Kirche geführt wurde als Teil der parodierten Messe. Das konnte sehr ausgelassen zugehen. Auf den Kirchplätzen wurde Musik gemacht, gefeiert, getanzt, gelegentlich finden sich in den Quellen Berichte über Ausschreitungen.
Weil die zu Gerichtsverfahren geführt haben?
Oftmals jedenfalls. Ein schönes Beispiel ist der Freimarkt in Bremen. Der ist zum Gedenken an den ersten Bremer Bischof, dem Heiligen Willehad, gestiftet worden. Dessen Fest wird am 8. November gefeiert. Der Freimarkt beginnt heute etwas früher, wegen der Schulferien und weil es im November meist kälter ist. Das ist ein Beispiel, bei dem ein kirchliches Fest zu einem Fest geführt hat, dessen Ursprung völlig verschwunden ist. Viel Volk und Handel wird da angezogen ...
Was bedeutet „gestiftet? Musste jemand erlauben, dass man da abgabenfrei handeln darf?
Genau. Kaiser Konrad II. hat dem Erzbischof von Bremen 1035 die „Jahrmarktsgerechtigkeit“ verliehen für zwei Märkte im Frühjahr und im Herbst. Die Marktbeschränkungen waren für diese beiden Märkte ausgesetzt, jeder konnte ohne jede Beschränkung durch die einheimischen Zünfte handeln. Daher auch das Wort „freier Markt“. Geblieben ist davon nur der Markt im Herbst.
Eselsmesse – was war das denn?
Das gab es vor allem in Frankreich. Da wurde ein Kind oder ein junger Kleriker mit Eselsmaske durch die Kirche getrieben. Oder es wurde ein Esel prächtig herausgeputzt, man setzte oft ein Kind darauf und führte ihn zum Altar. Wenn der Priester sich zur Gemeinde umdrehte, rief die nicht Dominus vobiscum, sondern zum Beispiel „Ya! Ya! Ya!“ Gleichzeitig schrieb man dem Reiten auf dem Esel eine heilige Kraft zu. Es gab in vielen Festen Tendenzen, sich selbst zu parodieren. Bei den Narrenfesten wurden Kinder oder Jugendliche zu Bischöfen gemacht und sollten Predigten halten – das war eine Parodie auf die sehr prunkvollen und ernsthaften theologischen Rituale. Offenbar gab es das Bedürfnis, diese Strenge auch mal zu brechen.
Ironie ist eine komplizierte Sache und wird leicht missverstanden. Hatte man damals da keine Sorge?
Man muss bei solchen Festritualen nicht davon ausgehen, dass alle, die daran beteiligt waren, den gleichen Spaß hatten. In der Vormoderne, um es nicht nur auf das Mittelalter zu beschränken, gab es viele Volksbelustigungen, die heute schwer nachvollziehbar sind.
Zum Beispiel?
Es gab z. B. Blindenturniere oder Schweineschlagen. Man führte Blinde auf ein abgezirkeltes Areal mit einem Schwein. Die Bilden wurden mit Knüppel, Rüstungsteilen und Helmen ausstaffiert. Sie sollten das Schwein erschlagen und durften es dann behalten. Die haben natürlich vor allem auf sich selber gegenseitig eingedroschen – und das war die eigentliche Volksbelustigung. Aus Lübeck gibt es einen ausführlichen Bericht für 1386. Ähnliche Spektakel sind auch für Paris, Köln und andere Städte belegt. Am Ende ist das Schwein mehr aus Ermüdung als wegen der Schläge, die es abbekommen hat, zur Strecke gebracht worden. Die Blinden durften dann mit ihren Blessuren das Schwein wegschleppen. Das ist ein Beispiel einer Volksbelustigung, die heute kein Verständnis mehr hervorrufen würde.
Die öffentlichen Hinrichtungen und Peinigungen waren ja auch Volksbelustigungen, Volksfeste.
Nicht unbedingt. Die klassischen „Theater des Schreckens“, bei denen man Hinrichtungen regelrecht inszeniert hat und die Hinrichtungsarbeiten immer ausgefeilter und länger andauerten, zum Beispiel das Flechten aufs Rad, die haben im 15. Jahrhundert erst begonnen und hatten ihre Höhepunkte in der Neuzeit. Hinrichtungen waren im Mittelalter schon in aller Regel öffentlich, bis ins 13. Jahrhundert aber nicht so sehr inszeniert.
Der eigentliche Weihnachtsmarkt heute ist „sinnlich“ ja nur in Bezug auf die Augen und den Alkohol. Die Leute gehen durch die Reihen, trinken Glühwein, gucken die Stände mit den Strümpfen und Bratpfannen an, essen Süßigkeiten gucken die kitschige Weihnachtsdekoration an. Es bleibt aber eine Distanz zwischen den Betrachtern und dem Fest. Stellen Sie sich mittelalterliche Märkte anders vor?
Wie die Menschen im Mittelalter agiert haben, ist schwer herauszubekommen. Die heutigen Weihnachtsmärkte sollen ein Bedürfnis der heutigen Menschen an das Weihnachtsfest erfüllen. Es gibt Würstchen, allerlei Süßkram, Glühwein, und alle Formen von Kunsthandwerk, was sie Weihnachtskitsch nennen. Das wurde im Mittelalter nicht verkauft. Die Märkte blieben Märkte für die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und Gerätschaften für den Haushalt. Aber das, was wir heute für die Dekoration der Wohnung brauchen, bis zu den Kerzen, um eine heimelige Stimmung zu erzeugen, das gab es alles nicht. Das ist eine neuere Entwicklung.
Aus der Romantik?
Vielleicht ein bisschen früher. Die Weihnachtsmärkte boomen seit den 80-er Jahren, sie werden immer mehr inszeniert. Jüngst ist in Bremen der „Schlachte-Zauber“ dazugekommen, d.h. man spricht verschiedene Klientel an. Im Mittelalter war Weihnachten aber ein Fest unter anderen, nicht das größte der Feste. Die Hauptfeste waren Ostern mit Kreuzigung und Auferstehung oder Pfingsten. Die Anzahl der kirchlichen Feste im Mittelalter war hoch, denn außer den 52 Sonntagen gab es keine Ferienzeiten. Es gab im allgemeinen römischen Festkalender im 13. Jahrhundert rund 80 Feste, und dazu gab es immer noch einige regionale Festtage, in Bremen zu Ehren der drei heiligen Bischöfe, also Willehad, Ansgar und seinem Nachfolger Rimpert. Und dann hatte man hier noch die Heilige Cosmas und Damian, in Wildeshausen gab es den Heiligen Alexander zum Beispiel. Man konnte bei Kirchweihfesten ausgiebig feiern, in Bremen auch noch das Fest zu Ehren des Heilige Petrus.
Das bedeutet: Man hatte die 50 Sonntage und jede Woche noch ein großes Fest mit Besäufnis.
Nicht jedes Fest ist in jeder Region so begangen worden, nicht jedes Fest hatte die gleiche Bedeutung. Manchmal hat man nur den Vormittag in der Kirche verbracht, aber sicherlich war oft auch der ganze Tag arbeitsfrei. An hohen kirchlichen Festen durfte man nicht arbeiten ...
Das war das Schöne ...
... das sind die Ruhezeiten, die jeder Mensch auch damals gebraucht hat. Erst die Aufklärung hat im 18. Jahrhundert gegen diese vielen freien Tage angekämpft, besonders in katholischen Gegenden, und versucht, ein geregeltes Arbeitsleben von Montag bis Samstag durchzusetzen. Übrig geblieben sind Ostern, Weihnachten, Pfingsten und Himmelfahrt, alles was dazwischen liegt, ist inzwischen zumindest als gesetzlicher Feiertag verschwunden.
Wie viele Stunden haben die Menschen im Mittelalter gearbeitet?
In der Regel von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, natürlich mit Pausen. Man hat hart und viel gearbeitet, aber jahreszeitlich unterschiedlich. Im Winter also weniger, im Sommer mehr.
Da es kein elektrisches Licht gab, war damit der Tag auch gelaufen?
Auf dem Lande sicherlich, in den Städten konnte man vielleicht Öllämpchen anzünden.
Seit wann gibt es Kerzen, um den Tag zu verlängern?
Kerzen gab es schon bei den Römern und in den Kirchen immer. Kirchen wurden immer mit Kerzen beleuchtet. Im Mittelalter gab es Wachszinser, deren Abgabe von Wachs zur Beleuchtung der Kirchen notwendig war. Es wurden immer Bienen gehalten für den Wachs. Im höfischen Bereich sind die Kerzen sicher früher ins Private übergegangen, so ab dem 13. Jahrhundert, weil man sich das leisten konnte. Sie geben ein schöneres und beständigeres Licht als Ölfunzeln oder Kienspäne.
Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit der Behandlung von Behinderten und chronisch Kranken im Mittelalter. Waren die Menschen damals grobschlächtiger, lüsterner, wie man das manchmal in Filmen sieht?
Der Umgang untereinander war sicher ein anderer, wie das Beispiel des Schweineschlagens zeigt. Das Mittelalter ist uns sehr fremd, es fand räumlich zwar hier statt, wo wir leben, in der Mentalität und in vielem anderem war es eine uns fremde Gesellschaft, deren Handlungsweise wir manchmal nur schwer nachvollziehen können. Manches kommt uns gröber vor, gerade der Umgang mit ausgegrenzten Gruppen, aber es gibt auch immer die umgekehrten Beispiele, etwa der Umgang mit behinderten Menschen in einer Familie. Die wurden über Jahre gepflegt, man hat sie mit in die Kirche genommen und mit auf Wallfahrten, sicherlich auch in der Hoffnung, dass eine Heilung passiert. Die Quellen erzählen da viele Wundergeschichten. Daneben gibt es Berichte von Behinderten, die irgendwann an Gaukler verkauft wurden, die sie zur Schau gestellt haben, auch das gab es. Obwohl man vor Krankheiten große Angst hatte, wurden Schwerkranke oft liebevoll gepflegt. Und sie hatten religiösen Beistand, was sehr wichtig war. Auch der Umgang mit Sexualität war anders, einerseits sehr restriktiv, andererseits gibt es seit dem Hochmittelalter auch sehr frivole Gedichte, Schwänke und Zoten, die auch für heutige Verhältnisse noch ziemlich derb und unverhohlen sexuell sind.
Beim Schlachte-Zauber wird auch ein Pranger gezeigt. War eine Hexenverfolgung auch eine Art Volksfest?
Hexen sind vor allem ein neuzeitliches Phänomen, das gehört nicht zum Mittelalter.
War die Neuzeit insofern grausamer als das Mittelalter?
Gewalt spielte in vormodernen Zeiten eine andere Rolle, als wir das als normal empfinden. Es hat sehr lange gedauert, ein Gewaltmonopol durchzusetzen. Seit dem 10. / 11. Jahrhundert gibt es Bemühungen um Gottes- und Landfrieden. Die Selbstjustiz, die Fehde, war ja ein wichtiger Bestandteil der Adelskultur. Die gewaltförmigen Streitigkeiten nach Ehrverletzungen konnten sich über Jahre hinziehen. Gleichzeitig muss man fragen, welchen Spielraum von Normalität es gegeben hat, welche psychische Auffälligkeit – nach unseren heutigen Vorstellungen – damals völlig normal und integriert war. Wir können rückwirkend keine Diagnosen stellen. Dass es wunderliche Leute gab, war normal. Gleichzeitig sind wunderliche Leute auch Ziel von Spott geworden. Das Erklärungsmodell der „Besessenheit“ mit Dämonen kennen wir schon aus der Bibel. Jesus leitet die Dämonen in eine Schweineherde, die sich dann im See Genezareth ertränken. Dämonen sind vor allem als Gegenspieler der Heiligen im Mittelalter sehr präsent.
Was würden Sie Besuchern eines Mittelalter-Marktes empfehlen, die wissen wollen, wie es wirklich war im Mittelalter?
Buchempfehlungen für den Gabentisch? Wie es „wirklich“ war, das weiß niemand. Wir erarbeiten punktuelles Wissen, das wir natürlich zu verdichten suchen. Es gibt aber Historiker, die sich sehr intensiv mit dem Alltagsleben beschäftigt haben, Klassiker wie Arno Borst zum Beispiel oder von Hans-Werner Goetz, Leben im Mittelalter. Was auch einen sehr guten Einblick bietet, das ist der Roman „Der Name der Rose“ oder das Hörspiel dazu, nicht so sehr der Film.