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Sommergäste, Winterholz

Von den Zwängen des Alltags befreit: André Meiers „Kleine Aussteigerfibel“ ist wichtig vor dem Umzug aufs Land

Es sind diese ganz großen Fragezeichen-Augenblicke. Immer mal wieder erlebt man sie, gern unter einem funkelnden Nachthimmel, vor sich die Flasche selbstgekelterten Holunderweins, im Rücken die Feldsteinkate, und auf dem Tisch liegt sie mal wieder, die alte Frage. Wäre ich nicht viel glücklicher auf dem Lande? Kann ich noch aussteigen? Bin ich in der Lage, mein urbanes Latte-to-go-Leben zu tauschen gegen dieses beschauliche Dorfleben, das die Freunde hier führen?

Mag sein, dass solch ein Fragezeichen-Augenblick bewirkt, dass man an einem frühwinterlichen Wochenende den Immobilienteil der Tagespresse studiert – auf der Suche nach dem Haus auf dem Lande, in dem man das einfache Glück zu finden meint. Mag aber auch sein, dass wohlmeinende Freunde einem vorsorglich „Die kleine Aussteigerfibel“ von André Meier schenken. Das kleine 141-Seiten-Werk – Untertitel „Landleben für Anfänger von A bis Z“ – schützt Großstadtträumer vor der folgenreichen Entscheidung, eine abgelegene Immobilie zu erwerben. Genauso ist es aber auch möglich, dass nach Lektüre der unumstößliche Entschluss fällt, die Sache mit dem Landleben jetzt aber wirklich konkret anzugehen.

Denn das ist das Umwerfende an diesem Buch. Es beschönigt nichts, es denunziert aber auch nicht das Aussteigerleben. Nach der Lektüre hat man zumindest eine Ahnung davon, worauf man sich mit einem Umzug ins Abgelegene gegebenenfalls einlässt.

Meier weiß offenbar, wovon er schreibt. In seinem mitunter gar zu sehr auf die sprachliche Pointe zugeschnittenen Ton erklärt er seinen Leserinnen und Lesern, was sie beherzigen sollten, bevor sie den Schritt aufs Land wagen. Das fängt bei Tipps für die Immobiliensuche an (hohe Arbeitslosigkeit plus häufige rechtsradikale Vorfälle ergeben eine preisgünstigste Wohnlage im Beitrittsgebiet), es geht über Vermeidungsstrategien kultureller Vereinsamung (Achtung, Wolfgang-Petri-Infektionsgefahr!) und reicht über das Glück der Subsistenzwirtschaft (Ackerbau und Viehzucht) bis zu dem guten Rat, auch im ländlichen Raum nicht die demokratische Teilhabe zu unterschätzen.

Was das heißt? Die Rede ist von handgemachter Kommunalpolitik, von in der Nachbarschaft wohnenden Gemeindevertretern, denen womöglich das Land gehört, auf dem alsbald eine Schweinemastanlage, eine Mobilfunkantenne oder das renditeträchtige Windrad erbaut wird. Kannte der Neudörfler bislang nicht einmal den Namen seines großstädtischen Bürgermeisters, kommt er als Aussteiger im ländlichen Raum nicht umhin, sich darüber zu informieren, in welche Radwege, Kitasanierungen oder Gewerbeansiedlungen der Gemeinderat zu investieren beschließt. Auf dem Lande ist eben alles ganz nah.

Wer all dies beherzigt, wer begreift, dass Meiers Buch konkrete Lebenshilfe sein will, wird erfreut sein, bereits vor dem Immobilienerwerb über das Paarungsverhalten der Landbevölkerung informiert worden zu sein, über die Notwendigkeit, essbaren Haustieren keine Namen zu geben, sowie über die Festmeterpreise für Brennholz und den Erwerb eines Angelscheins. Wenn alles gut geht, versetzt ihn die Lektüre der „Aussteigerfibel“ in die glückliche Lage, sich alsbald „von den Zwängen des Alltags zu befreien“, um – und dies ist nur eine von Meiers diversen Glücksverheißungen – „bei Vollmond endlich ungeniert an einen Baum pinkeln zu dürfen, ganz egal ob in der Hocke oder im Stehen“. ANJA MAIER

André Meier: „Die kleine Aussteigerfibel – Landleben für Anfänger von A bis Z“, Seitenstraßen Verlag, 141 S., 9,90 €

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