: Hobbes’ Welt
Nach dem Irakkrieg: Solange sich die USA als weltweite Ordnungsmacht mit absolutistischem Anspruch sehen, bleibt ihr Verhältnis zu Europa nachhaltig gestört
Ach ja, man hat sich furchtbar gestritten. Manche hierzulande haben ein schlechtes Gewissen. Andere haben ein gutes Gewissen, jammern aber über die fatalen Folgen für das transatlantische Verhältnis. Die Rede ist von der Irakpolitik. Allenthalben hört und liest man über die Notwendigkeit, schnellstmöglich über den vergangenen Streit hinwegzukommen und wieder die Gemeinsamkeiten zu betonen. Vielfach klingt auch die bange Frage an, ob nicht die mächtigen Freunde so böse über uns sein werden, dass sie uns dauerhaft ignorieren oder abstrafen, nachdem – wie es ein Teil der transatlantischen Folklore sehen möchte – Berlin die Tradition von einem halben Jahrhundert Atlantizismus ohne Not aus dem Fenster geworfen hat.
Doch das ist alles falsch. Zum Ersten: Es handelt sich nicht um Stilfragen. Die Berliner Diplomatie, namentlich die des Kanzleramtes, tapste zwar mehrfach unverdrossen in selbst aufgestellte Fettnäpfe – etwa durch die Kreation des Begriffs „deutscher Weg“ oder die für alle überraschende Ankündigung eines deutsch-französischen Plans, die Unmovic-Inspektoren durch Blauhelme eskortieren zu lassen. Diese Eskapaden waren jedoch für den Streit nicht von Relevanz. Überhaupt verlief die Front nicht zwischen Amerikanern und Deutschen, sondern zwischen Washington und Paris. Frankreich hatte, anders als Berlin, einem militärischen Einsatz nie grundsätzlich, sondern nur unter den vorläufig obwaltenden Umständen eine Absage erteilt. Das nahmen die Hardliner in den USA den Franzosen wesentlich übler als den Deutschen ihren prinzipiellen Irakpazifismus. Denn die französische Position bedeutete, dass die Amerikaner nach den eigenen Maßstäben Unrecht hatten. Auch eine glänzende deutsche Diplomatie würde die tief gehenden Unterschiede zwischen den USA und Deutschland nicht überbrücken.
Zum Zweiten: Die Irakfrage war keine isolierte Angelegenheit, sondern ein weltpolitisch bedeutsames Symptom eines weltanschaulichen Antagonismus in der westlichen Welt über die richtige Weltordnung. Er schlägt sich nieder in einer Fülle von Streitfällen über internationale Verträge, Übereinkommen, Aktionsprogramme und Verhandlungen, in denen die USA auf der einen, die Europäer nahezu geschlossen und durchgehend auf der anderen Seite stehen. Sie reichen von handelspolitischen Fragen wie der Bereitstellung von preiswerten Pharmaprodukten für die Entwicklungsländer bis zu umweltpolitischen wie dem Kioto-Protokoll, von menschenrechtlichen wie dem Protokoll zur Anti-Folter-Konvention bis zu entwicklungspolitischen wie dem Aktionsprogramm des UN-Bevölkerungsfonds. Ganz besonders betreffen sie den ganzen Bereich der Rüstungskontrolle, wo die USA sich praktisch von einem für unverzichtbar gehaltenen Instrument der Sicherheitspolitik großflächig verabschiedet haben. Und sie schlagen sich in zentralen institutionellen Fragen wie dem Internationalen Strafgerichtshof und der Charta der Vereinten Nationen wieder.
Aus Sicht der amerikanischen Neokonservativen muss die internationale Ordnung eine absolutistische sein: Die Anarchie der Welt, die durch die Möglichkeiten moderner Technik – Massenvernichtungswaffen und kommunikative Vernetzung – und das Auftreten extremistischer Akteure – transnationaler Terroristen und skrupelloser Diktatoren – einen besonders gefährlichen Grad erreicht habe, bedürfe zu ihrer Bändigung der überlegenen Ordnungsmacht. Deren Handeln müsse völlig frei und dürfe an keine Regeln und Verfahren gebunden sein, um im Interesse der Ordnung (und natürlich der wohlverstandenen eigenen Belange) Risiken im Keim zu ersticken.
Unverkennbar sind die Ähnlichkeiten zwischen dieser Vision und der Lösung, die Thomas Hobbes für die englischen Bürgerkriegswirren des 17. Jahrhunderts erdacht hatte: Die Übernahme der Herrschaft durch den überlegenen Gewaltmonopolisten, den souveränen „Leviathan“, der die auseinander strebenden, gewaltträchtigen Interessen der gesellschaftlichen Kräfte mit weiser Gewalt im Zaume hielt. Dies wollen heute die USA für das internationale System leisten.
Freilich übersehen die US-Neokonservativen, dass Hobbes den Souverän aus der Zustimmung der Beherrschten hervorgehen ließ und diesen das Recht zusprach, ihn bei Machtmissbrauch zu stürzen. In der ungemein vielfältigen und kulturell heterogenen Welt von heute provoziert das Diktat eines – wie immer wohlmeinenden – Hegemons Widerstand, der dessen Ordnungsleistung untergräbt. Überdies lässt sich ein derart extrem komplexes System mit einer Vielzahl von Leistungserfordernissen – etwa Umwelt, Finanzen, Handel, Bevölkerung – nicht in Kommandoherrschaft steuern. Auch dem ausgefeiltesten bürokratischen Apparat ist es unmöglich, die Unzahl von Informationen, die zur Steuerung erforderlich sind, zu verarbeiten und angemessene Entscheidungen zu treffen. Die kulturelle Beschränktheit macht es noch dazu extrem schwer, unterschiedliche Lagen richtig zu beurteilen; man denke nur an die Unfähigkeit der Pentagon-Planer, den schiitischen Faktor im Irak auch nur in Betracht zu ziehen.
Mit anderen Worten: Nicht Berlin ist den Amerikanern von der Fahne gegangen, sondern Bushs Neokonservative haben das westliche Projekt des letzten halben Jahrhunderts aufgekündigt, das unsere Interessen in der Stärkung von Völkerrecht und der internationalen Organisationen sah: Auch der Nato-Vertrag gibt in seinem Artikel sieben dem UN-Sicherheitsrat den Vorrang in Fragen von Krieg und Frieden jenseits der Selbstverteidigung.
Europa hingegen weiß aus eigener Erfahrung, dass gelungenes Regieren über die Grenzen hinweg dreierlei voraussetzt: Zum Ersten die Etablierung von Rechtsnormen, die alle Beteiligten binden, die Großen wie die Kleinen. Zum Zweiten eine aktive Teilhabe aller an den Entscheidungen; nicht nur mächtige, sondern auch schwache Staaten müssen wissen, dass ihre Interessen in den kollektiven Entscheidungen hinreichend berücksichtigt werden. Und drittens ein organisatorisches Gefüge mit ausreichenden Handlungskompetenzen, um die Durchführung von Beschlüssen in den verschiedenen Politikfeldern zu gewährleisten. Diese Ordnungsvorstellung hat Europa in seiner Außen- und Sicherheitspolitik in einzelnen Politikfeldern bislang sehr konsequent vertreten, wenn es auch in den großen weltpolitischen Fragen, wie jetzt in der Irakkrise, selten mit einer Stimme sprach. Sie steht mit der amerikanischen, die für die Lösung der Weltprobleme weit weniger taugt, in einem offenkundigen Widerspruch. Deshalb werden die transatlantischen Differenzen so lange nicht verschwinden, bis Europa sich entweder unterwirft und damit seine Identität einbüßt und schwere innenpolitische Verwerfungen in Kauf nimmt; oder bis die USA ihre Politik und die dahinter stehende Gesinnung ändern.
HARALD MÜLLER