: Die Ironie ist mal wieder ausgefallen
Wütende Rapper und andere linksradikale Politstreber – der diesjährige revolutionäre 1. Mai in Berlin-Kreuzberg
In Kreuzberger Imbissen kostet das Bier am 1. Mai Tag 1,80 Euro, aber wirklich rechnen würde sich dieser Tag vermutlich nur, wenn man auf Polizeieinsätze verzichten würde. Mit dem eingesparten Geld könnte man die Schäden begleichen.
Manchmal denkt man an den legendären ersten Mai-Krawall, diesen Einbruch des Plötzlichen am Rande der Nacht mit viel Blaulicht, die schöne Angstlust, wenn man von den „Bullen“ wegrannte, die „Faszination des Echten“, wenn man einen Knüppel auf die Omme bekommen hatte, die Massenerfahrung, die einen als entfremdeten Schreibtischmenschen natürlich begeistert.
Damals waren die Demos irgendwie anders; anarchistischer, intelligenter. Man war gegen das Spießersystem und hatte das Gefühl, mit Gleichgesinnten zusammen zu laufen, die ansonsten nicht auftauchen im Repräsentationsgefummel. Ein paar Jahre standen die Demo und ihre Teilnehmer dann eher für sich selbst. Das war die quasi postmodere Klugheit dieser Veranstaltung: sich nicht auf dies moralistisch-autoritäre Politstrebermoment einzulassen; zu wissen, dass die eigene Lebenspraxis wichtiger ist und dieser Politforderungshumbug Ersatz und bestenfalls Berufsvorbereitung wie bei Fischer, Trittin, Kuhn usw.
Und dieses Jahr? Wie immer spielen die schlechtesten Bands der Welt auf dem Mariannenplatz. Die intelligenten, ironischen Demonstrationen (der Spaßpartei „KPD-RZ“ mit ihren Unsinnsforderungen), die immer am Abend des 1. Mais losrennen wollen, fallen meist aus wg. Krawall. Die „linksradikalen“ Demos wirken autoritär, wirklichkeitsfremd und folkloristisch. Man steht am Rande am Lausitzer Platz und denkt: Oje, ist das peinlich. Eine Punkband singt „Scheiß-Hamburg! Böses Hamburg!“ Ein Rapper rappt freestyle, was in seinem Kopf drinnen ist: „Lasst euch nicht unterdrücken. Ihr müsst eure Wut ausdrücken.“ Wut ist das pfäffische Hasswort des Jahrhunderts.
Irgendwo gab’s ein Live-Interview mit jemandem in Paris: „Hier sind 20.000; wieviel sind’s bei euch?“ – „40.000.“ Na, super. Kotz, kotz; diese Sucht danach, zur eigentlichen Mehrheit zu gehören, Teil einer weltweiten Bewegung zu sein – die Mehrheit ist aber immer doof und würde man nie zu einer Party einladen –, diese globalen Forderungen, wo es in Kreuzberg real doch um so banale Dinge wie Chancengleichheit (für ausländische Jugendliche) und Bildungspolitik gehen müsste.
Man fährt genervt nach Haus und kommt später wieder. Man ist fasziniert und aufgeregt wegen der beeindruckenden Polizeimacht, hat ein bisschen Angst. Leute brüllen im Chor zu den „Bullen“: „Zieht den Bayern die Lederhosen aus.“ Und auch das ist letztlich ziemlich schal und ganz unecht. DETLEF KUHLBRODT