: Marburys weiter Weg
„Basketball ist alles, was wir hier haben“, sagt David Reed vom Jugendzentrum auf Coney Island. Doch nicht alle Kids, die bei ihm Basketball spielen, entkommen dem Ghetto wie Stephon Marbury
AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL
Coney Island könnte genau so gut in Idaho liegen, so weit ist es von Manhattan entfernt. Die Halbinsel beginnt am Ende des Ocean Parkway, der Hauptdurchgangsstraße durch den endlosen Häuserbrei des größten New Yorker Stadtteils Brooklyn. Die Querstraßen sind – der Entfernung von Manhattan entsprechend – nach dem Alphabet geordnet und Coney Island fängt hinter der Avenue Z an. Biegt man dort rechts in Surf Avenue ein, die parallel zum Strand verläuft, erscheint wie eine Fata Morgana aus dem Strandsand eine scheinbar endlose Landschaft deprimierender, gesichtsloser Hochhäuser. Es sind die Coney Island Projects, graue Plattenbauten aus den Fünfzigerjahren, die genauso in Berlin-Marzahn oder am Stadtrand von Moskau stehen könnten. 15 Wohnungen sind dort auf jedem Stockwerk und unter den Drogendealern tobt ein niemals endender Krieg um die Gänge, die nach Urin stinken: Jeder Flur ist ein eigener Absatzmarkt.
Hier wurde 1995 Jason Sowell niedergeschossen. Er war 17 Jahre alt und ein Klassenkamerad von Stephon Marbury auf der Lincoln High School in Coney Island. Marbury ist in einer Vierzimmerwohnung in einem 15 Stockwerke hohen Gebäude auf der 31. Straße zwischen der Surf und der Mermaid Avenue aufgewachsen. Er ist der zweitjüngste von fünf Brüdern, und er hat zwei ältere Schwestern. „Es herrschte immer Chaos bei den Marburys“, erinnert sich Marburys College-Trainer Bobby Cremins. „Immer stand die Tür offen, es war ein ständiges Kommen und Gehen.“ Stephon Marburys Eltern kannten es nicht anders: Vater Don, ein arbeitsloser Arbeiter, hatte fünf Geschwister, und die Mutter Mabel, ambulante Altenpflegerin, hatte neun.
Stephon Marbury und seine Brüder verbrachten so wenig Zeit wie möglich in dieser Wohnung. Abends huschten sie hinein, morgens rannten sie wieder hinaus. Ihre Tage verbrachten sie dort, wo alle Jungs aus Coney Island, die dem Kreislauf aus Drogen, Kriminalität und Gewalt entkommen wollen, ihre Tage verbringen: auf jenem legendären Basketball-Court zwischen den Projects, den man in Coney Island nur den Garden nennt – in Anspielung an den Madison Square Garden, der nur eine Stunde mit der U-Bahn, aber doch Welten entfernt liegt.
Mitte Januar diesen Jahres durfte Stephon Marbury als Neuzugang der Knicks im richtigen Garden sein erstes Heimspiel bestreiten. In einem spektakulären Trade hatte der neue President of Basketball Operations, Isiah Thomas, Marbury von den Phoenix Suns nach Hause geholt. Es war kein grandioser Einstand – die Knicks verloren 79:111 gegen Houston. Marbury spielte fahrig, nervös, übermotiviert. Verständlich – denn es war der Tag, auf den er sich sein ganzes Leben lang gefreut hatte. Doch mittlerweile hat er zu seinem Spiel gefunden, und in New York spricht man zum ersten Mal seit langer Zeit wieder von den Playoffs.
Marburys Einstand bei den Knicks nährt die Hoffnung der rund 360 Kinder zwischen 8 und 21 Jahren, die täglich im Garden auf Coney Island Basketball spielen. Alle wollen einmal das schaffen, was Stephon Marbury geschafft hat: Einen Profivertrag in der NBA bekommen. Oder zumindest ein Basketballstipendium, das eine Ausbildung sichert. Basketball ist das Ticket raus aus Coney Island, das Ticket zu einem besseren Leben. „Basketball ist alles, was wir hier haben“, sagt David Reed, genannt Disco Dave, ein Angestellter des Jugendzentrums auf Coney Island, der ehrenamtlich nachmittags die Kinder im Garden trainiert und sie so von der Straße fern hält.
Die Hoffnung, mit Hilfe des Basketballs das zu schaffen, was Stephon Marbury geschafft hat, spielt Disco Dave und seinem Partner Robert Williams, genannt Mr. Lou, Jahr für Jahr eine Flut an ehrgeizigen Talenten in die Arme. Dieselbe Hoffnung hat die Lincoln High School auf Coney Island, wo Mr. Lou und Disco Dave ihre besten Spieler hinschicken, zu einer der erfolgreichsten High Schools des Landes im Basketball gemacht. Gerade spielt dort der nächste designierte Superstar: Marburys Cousin Sebastian Telfair.
Vielleicht wird Telfair wie James und Anthony direkt von der High School gedraftet. Vielleicht schafft Telfair wie Marbury die für Ghettokids schwerste Hürde ins College: den College-Eignungstest SAT. Vielleicht geht er direkt von der High School in die NBA. Eines ist jedoch sicher – Telfair und Marbury werden die Ausnahme bleiben. Stephon Marbury weiß genau, was die Floskel „To beat the odds“ bedeutet: sich entgegen jeglicher Wahrscheinlichkeit durchzusetzen. Er muss sich nur in seiner eigenen Familie umschauen. Vater Don Marbury hatte für alle seine fünf Jungs Basketball als den Weg aus dem Ghetto vorgesehen und ihnen einen Ball in die Hand gedrückt, bevor sie richtig laufen konnten. Doch die Brüder scheiterten alle an den Anforderungen des College-Studiums. Nicht viel glücklicher sind die Geschichten von Marburys Mannschaftskameraden auf der Lincoln High School.
Marbury ist bis heute das Ghettokid mit der großen Klappe. Das ist seine Überlebensstrategie. Er trug schon mit 10 die Attitüde des kommenden Superstars vor sich her: Wo das Leben einem so schlechte Karten gibt, muss man eben von sich überzeugt sein. Davon, dass man der eine unter Tausenden ist, der es schafft. Weil er so ist, so sagt man, verstehe sich Marbury auch so blendend mit Isiah Thomas. Thomas war Point Guard wie er. Und Thomas ist ein Ghettokid wie er. Er wuchs auf der West Side von Chicago auf, einer Gegend, die nicht besser ist als Coney Island. Einer seiner Brüder starb an Drogen und Aids, ein anderer soff sich zu Tode. Thomas hingegen spielte sich hoch zu einem der großen vier des Basketballs der Achtzigerjahre: sein Name wird in einem Atemzug genannt mit Magic Johnson, Michael Jordan und Larry Bird.
Das Selbstbewusstsein von Thomas und Marbury könnte genau das sein, was die Knicks brauchen. Denn gemessen an dem, was sie hinter sich haben, ist der Weg an die Spitze der NBA nicht besonders weit. Längst nicht so weit jedenfalls wie der Weg von Coney Island in den Madison Square Garden.