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Archiv-Artikel

Verzweifelt und verführbar

Busentführungen: Die unberechenbare, spontane Gewalt frustierter junger Muslime stellt die Innenpolitik vor ebenso große Herausforderungen wie der islamistische Terror

Die großen islamischen Verbände täten gut daran, diesen Zusammenhang zur Kenntnis zu nehmen

Es war ein ebenso hitziger wie kurzer Schlagabtausch, der sich nach den Busentführungen in Bremen am 25. April und in Berlin am 27. April entzündete. Der Innensenator der Hansestadt, Kuno Böse (CDU), wusste bereits am Tag der Entführung: „Die Tat hat einen eindeutigen islamistischen Hintergrund.“ Der Kriminologe Christian Pfeiffer widersprach und meinte stattdessen: Leute wie der 17-jährige Bremer Täter seien einfach unreif. Terroristen, die eine wirklich islamistisch geprägte schlimme Tat vorhaben, gingen anders vor.

Als sich tatsächlich keine Verbindungen zwischen den beiden Deutschlibanesen und islamistischen Terrorgruppen herstellen ließen, war die Diskussion schnell beendet. Die Öffentlichkeit gab sich mit der Erklärung zufrieden: Bei den Busentführern handele es sich um verwirrte Seelen, tragische Fälle für die Psychiatrie, die den Islam lediglich missbraucht hätten, um auf sich aufmerksam zu machen.

Die Pathologisierung der Taten mag im Einzelfall gerechtfertigt sein, der Brisanz der Situation wird sie nicht gerecht. Denn eines ist sicher: Es wird hierzulande weitere spektakuläre Gewaltdelikte im Namen des Islam geben. Sie müssen nicht immer so glimpflich verlaufen wie die von vergangener Woche. Denn in Deutschland gibt es tausende verwirrter junger Männer und Frauen, die in einem Milieu sozialisiert werden, das die weltweite Opferrolle des Islam seit Zeiten variantenreich beklagt.

Einen aktuellen Stimmungsbericht aus diesem Milieu liefert das vor allem von jungen Muslimen genutzte Internetportal „Muslim-Markt“(www.muslim- markt.de) in einem „Aufruf zum Inneren Dschihad“ vom 29. April. Dort ist zu lesen: „Noch drastischer (als mit den Busentführungen) lässt sich die Verzweiflung unter der muslimischen Jugend kaum dokumentieren. Der scheinbar mühelose Einmarsch der USA im Irak (…), die täglichen Verbrechen und Demütigungen Israels gegenüber den Palästinensern (…), die Unterdrückung der Muslime in den ehemaligen Sowjetrepubliken, (…) das andauernde Elend in Afghanistan, (…) die scheinbare Hilflosigkeit, mit der die Muslime zusehen müssen, wie überall in der Welt ein faktischer Kreuzzug gegen ihre Glaubensgeschwister praktiziert wird, all das und noch viel viel mehr hat sich zu einem fürchterlichen explosiven Gebräu aus Frustration einiger zusammengemischt, welches sich in kleinen Einzelaktionen frustrierter Einzeltäter zu entladen versucht.“

Dieser Weltsicht hängt nicht nur eine kleine ideologisierte Minderheit der Muslime an. Selbst der gemeinhin als liberal geltende Zentralrat der Muslime spricht im Zusammenhang mit den Bus-Entführungen von den „vielen Demütigungen und Verletzungen, die die Muslime weltweit täglich erleiden“. Und bereits vor Jahren verkündeten islamistische Scharfmacher wie der Präsident der Islamischen Föderation Berlin, Nail Dural, im Milli-Görüș-nahen Fernsehsender TFD: „Wir leben in einer Gesellschaft, die unsere heiligen Werte verbrennen will.“

Wer die Welt so schlicht und einseitig interpretiert, der begünstigt Hass und Gewalt. Ganz so wie jene christ- und sozialdemokratischen Politiker, die über Jahre hinweg die Mär vom raffgierigen Scheinasylanten, kriminellen Ausländern und den ausgebeuteten Deutschen verbreiteten. Rechtsorientierte Jugendliche griffen vor allem in den Neunzigerjahren auf diese Diskurse zurück und nutzten sie zur Legitimation ihrer Angriffe. Es hat lange gedauert, bis sich in breiteren Teilen der deutschen Öffentlichkeit die Erkenntnis durchsetzte: Aus Brandsätzen werden Brandsätze. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen den Feindbildkonstruktionen der politischen Mitte und den Opfergruppen, die sich rechte Jugendliche wählen.

Auch eine zweite Lehre konnte aus der rechtsextremen Offensive der Neunziger gezogen werden: Die rassistischen Akteure waren nur selten in festen Gruppen organisiert. Die wenigsten verfolgten bei ihrem Handeln einen rationalen oder gar strategischen Plan, der auf den Umsturz der bestehenden Ordnung zielt. Viel häufiger ist der Tätertypus, der aus einem diffusen Minderwertigkeits- und Bedrohungsgefühl heraus Versatzstücke rechter Ideologien aufgreift und sich entsprechende Opfergruppen sucht. Mit seinem Ausländerhass glaubte er sich dabei im Einklang mit der politischen Mitte.

Die großen islamischen Verbände täten gut daran, diese Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen und zu bedenken, was ihre Opferdiskurse und Feindbildkonstruktionen bei „ihren“ Jugendlichen auslösen können. Denn die große innenpolitische Herausforderung in Deutschland wird in nächster Zukunft weniger terroristische Gewalt von Gruppen wie al-Qaida sein, sondern die unberechenbare, da spontane Gewalt von jungen Männern, die bei ihrem Handeln auf die vermeintliche weltweite Unterdrückungserfahrung der Umma (Gemeinschaft aller Muslime) zurückgreifen. Es reicht also nicht, wenn sich muslimische Verbände von islamistischen Terrorgruppen distanzieren und sich zur Gewaltlosigkeit bekennen. Auch bundesdeutsche Politiker, die das rassistische Klima förderen, sind selbstredend gegen Gewalt. Beiden Gruppen ist zu sagen: Verantwortungsvolles demokratisches Handeln ist weit mehr als der Verzicht auf körperliche Gewalt.

Die Parolen der politischen Mitte und die Taten verwirrter Jugendlicher hängen eng zusammen

So sehr muslimische Verbände in die zivilgesellschaftliche Pflicht genommen werden sollten, darf dabei die Mehrheitsgesellschaft nicht aus der Verantwortung entlassen werden. Denn sie ist es, die den Jugendlichen, über die wir hier sprechen, in der Vergangenheit zu wenig Integrationsangebote gemacht hat. So wurde gerade den libanesisch-palästinensischen Familien, die seit den Busentführungen im Zentrum des Interesses stehen, in den letzten zwanzig Jahren vieles vorenthalten.

Tausende solcher Familien flüchteten nach dem Massenmord in dem nahe Beirut gelegenen Flüchtlingslager Sabra/ Schatila 1982 nach Westberlin und Westdeutschland. Unter den Augen des israelischen Militärs hatten christliche Milizen ein Massaker unter den Bewohnern verübt. Ein Kriegsverbrechen. Für die Kinder dieser Familien gab es jahrelang keine Schulpflicht; die Eltern wurden mit Arbeitsverbot belegt, von Ausweisung bedroht. Gleichzeitig waren in Deutschland nur wenige bereit, sich mit ihrem Leid zu beschäftigen, für das der heutige Ministerpräsident Israels, Ariel Scharon, eine Mitverantwortung trägt. Viele hatten Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus.

Solche Verhältnisse können Menschen in die Verzweiflung treiben. Im Kampf um ein Stück Selbstwertgefühl blieb vielen palästinensischen Jugendlichen nur die Wahl zwischen Kriminalität und islamistischen Ideologien. Letztere sorgen heute immerhin für Schlagzeilen, wenn sie Brandsätze auf Synagogen werfen oder Busse entführen. Das Glück eines gesellschaftlichen Ein- oder gar Aufstiegs war nur wenigen beschieden. Die deutsche Gesellschaft muss sich als Antwort auf die Bus-Entführungen etwas anderes einfallen lassen als den Ruf nach schneller Abschiebung. EBERHARD SEIDEL