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Archiv-Artikel

Systeme gehen, Vajda bleibt

„Was mich geleitet hat war, dass ich jede politische Äußerung vermieden habe. Das hat sich bewährt“

von KENO VERSECK

Die EU-Uhr an der Wand tickt leise und hart. Unter der Uhr hängt ein großes Schwarz-Weiß-Poster. Es zeigt eine schlafende Eisbärenmutter mit ihrem schlafenden Jungen im Arm. Auf dem Eckschrank fängt ein großer, alter Ährenkranz Staub ein. Der Kranz ist liebevoll geflochten. Jede Ährensorte trägt ein Schleifchen in den Nationalfarben Rot-Weiß-Grün.

Das ist das kleine Vorzimmer der EU-Hauptabteilung im ungarischen Landwirtschaftsministerium.

László Vajda ist schon seit einer halben Stunde da. Er wohnt in der Nähe, jeden Morgen kommt er zu Fuß ins Büro. Erst jetzt, um acht Uhr, ergießt sich aus dem U-Bahn-Schacht am Kossuth-Platz langsam der Hauptstrom der Angestellten ins Ministerium.

Vajda sitzt auf einem Stuhl dicht neben dem Schreibtisch der Sekretärin, die ihm einen Stapel Papiere gereicht hat. Er sitzt gebeugt da, liest konzentriert und unterzeichnet Schriftstücke, ein Vorgang, den er hin und wieder mit einem kritischen, aber insgesamt gütigen Brummen begleitet.

László Vajda, 53, arbeitet seit 1975 im ungarischen Landwirtschaftsministerium. 1995 wurde er Leiter der Hauptabteilung EU-Integration. Seit einigen Jahren pendelt er zwischen Budapest und Brüssel, in der letzten Zeit fast wöchentlich. Am Vorabend, kurz vor Mitternacht, ist er aus Brüssel zurückgekommen, von einer mehrtägigen Sitzung des Unterausschusses für Landwirtschaft. Darüber wird er gleich in der wöchentlichen EU-Besprechung des Ministeriums Bericht erstatten.

„Dieses Gebäude wurde 1887 gebaut“, erläutert Vajda. „Damals war mein Großvater hier Forstbeamter. Er ist als stellvertretender Staatssekretär pensioniert worden. Das steht mir auch bevor.“ Er lächelt wissend. Dann blicken seine Augen plötzlich misstrauisch drein. Hat er zu viel gesagt?

Im großen Sitzungssaal steht eine Büste Stephans des Heiligen, der vor tausend Jahren den ungarischen Staat gründete. König Stephan starrt kalt ins Leere, eingerahmt von einer ungarischen und einer EU-Fahne. An den Wänden hängen Bronzereliefs von Pferden, rauchenden Fabrikschloten und stämmigen Bäuerinnen, die Traktor fahren.

Der Saal ist voll, viele Anwesende müssen stehen. László Vajda duzt die „lieben Kollegen“. Er referiert langsam, aber virtuos über Einzelheiten der Angleichung des ungarischen Landwirtschafts-Statistikwesens an das der EU, über das Milchquotenverteilungssystem und über temporäre rurale Entwicklungsinstrumente. In das Ungarische seiner Rede mischt er Begriffe wie standarding, guidelining oder certifying body. So muss der Zusammenprall der Zivilisationen klingen.

Nach einer halben Stunde Vortrag hebt er die Bedeutung des Artikels 33 der Richtlinie 1257/99 hervor. Kugelschreiber flitzen über Papier. „Wichtig ist: Keep it simple“, bemerkt Vajda mit nachdrücklichem Ernst, „so heißt es immer in Brüssel.“ Er fordert einige junge Leute, die mit ihm in Brüssel waren, auf, Teilaspekte von Richtlinien und Verfahrensweisen zu referieren. Zwischendurch ergänzt er die Teilaspekte um weitere Einzelheiten.

Vajda ist kein Besserwisser. Nicht einmal im Ton. Er weiß es wirklich. Hat einfach alle Lektionen gelernt. Vermutlich so gut wie wenige im Ministerium.

Einige Anwesende wirken niedergeschlagen. Als wäre ihnen klar geworden, dass im Leben manchmal Gefälle auftreten, die durch keine wie auch immer geartete Anstrengung auszugleichen sind. Und sei es auch noch so erstrebenswert.

Ungarn, betont Vajda, das habe die jüngste Sitzung des Unterausschusses für Landwirtschaft in Brüssel wieder einmal bewiesen, genieße auf allen Ebenen volle Anerkennung. Ein Zeichen dafür ist, sagt er, dass die Aussicht besteht, dass die EU-Behörde für Lebensmittelsicherheit ihren Sitz nach Budapest verlegt.

Vajda läutet das Ende der EU-Besprechung ein. Mit einer „interessanten Anekdote“ von der Brüsseler Sitzung: Es habe Vertreter von Ländern gegeben, die sich tagelang kein einziges Mal zu Wort gemeldet haben. Vajda lächelt triumphierend in das Schweigen des Saales. Nach einer Weile fragt er: Gibt es jemand, der kein schriftliches Material haben will? Niemand meldet sich.

László Vajda kommt aus einer Beamtenfamilie, sein Vater war Amtsarzt. Er hat Außenwirtschaft in Budapest studiert. Nach dem Studium arbeitete er einige Zeit in einer Firma für Getreidehandel. 1975 bot ihm das Landwirtschaftsministerium eine Stelle an. „Weil ich Erfahrung im Außenhandel hatte und weil ich verhandlungsfähig in Englisch, Deutsch und Französisch war.“

Mitte der Siebziger, Blütezeit des Kádárismus. Dreißig Jahre lang war János Kádár Ungarns Staats- und Parteichef. Bevor er das wurde, hatte er als Abweichler in einem stalinistischen Folterkeller gesessen. Als Parteichef ließ er die antikommunistische Revolution von 1956 niederschlagen. Später bot er den Ungarn an: Schweigen über Politik gegen Annehmlichkeiten. Konsum, Reisen, Privatboutiquen. Die Ungarn nahmen an. So errichtete Kádár die lustigste Baracke des Ostblocks, den Gulaschkommunismus. Er war kein charismatischer Führer. Er war gemütlich und fuhr gern Straßenbahn. Die Leute mochten ihn dafür.

„Wir waren schon damals eines der besten Ministerien“, erzählt László Vajda, „anerkannt für das hohe Niveau unserer Arbeit. Ungarn exportierte damals bedeutende Mengen Geflügel, die Maiserträge lagen sehr hoch.“

Es gab viele Parteimitglieder im Ministerium. László Vajda war nicht in der Partei. „Man hat zur Kenntnis genommen, dass ich in dieser Richtung nicht interessiert bin. Die Parteimitglieder wurden schneller befördert, aber allmählich bin ich auch vorwärts gekommen, weil man mit meiner Arbeit zufrieden war.“

Vajda war erster ungarischer Vorsitzender einer OECD-Sektionsgruppe, er war dabei, als Ungarn 1988 das erste Abkommen mit der EG abschloss, und er hat die Landwirtschaftskapitel der Freihandelszonen EFTA und CEFTA mit ausgehandelt. Der französische Präsident schlug ihn 1995 zum „Ritter des nationalen Verdienstordens“. Letztes Jahr erhielt er das österreichische Große Goldene Ehrenzeichen für seine internationalen agrarpolitischen Verdienste.

Und was hat sich geändert in all den Jahren? Wie sah die Wende im Landwirtschaftsministerium aus?

„Hm, geändert …“ László Vajda brummt angestrengt. Es fällt ihm schwer, auf so eine Frage zu antworten. „Nach 1990 hatten wir alle vier Jahre Wahlen. Jedesmal gab es einen Regierungswechsel.“ Sein Ton klingt verständnislos. Muss so etwas unbedingt sein? „Das hatte Auswirkungen auf die Kontinuität der Agrarpolitik. Man war in Gefahr, ausgetauscht zu werden. Diese Abgeordneten …“ Er bricht den Satz ab. „Was mich immer geleitet hat, war eigentlich, dass ich jede politische Äußerung sowohl schriftlich wie auch mündlich vermieden habe. Das hat sich bewährt.“

László Vajda könnte nach Brüssel gehen, dort weiter Karriere machen und mehr Geld verdienen. Er will es sich noch überlegen, aber er geht wahrscheinlich nicht, sondern bleibt in Budapest. Die Kollegen mögen ihn. Er ist geschieden, aber seine beiden Söhne, 21 und 23, sind in der Stadt. Und dann die Beamtentradition. Ehre, Dienst am Land, den jungen Leuten im Ministerium helfen. Der Stolz, Ungar zu sein. Das sind seine Werte. Er blickt misstrauisch. Klang das glaubwürdig?

Das Landwirtschaftsministerium ist sehr groß. Eines der größten unter allen Ministerien in Ungarn. Tausend Leute arbeiten hier. Die breite Vorderfront ist dem Haupteingang des Parlamentes zugewandt. Schwarze Kügelchen kleben auf zugegipsten Einschusslöchern an der Fassade. Sie sollen an die Märtyrer des Ungarn-Aufstandes von 1956 erinnern. Daneben sind bronzene Gedenktafeln angebracht. Zum Beispiel für Sándor Fejes, den „Vater der industriellen Obst- und Traubenproduktion in Ungarn“.

Innen herrscht Behördenheimeligkeit. Arbeitstempo andante. Ab dem dritten Besuch winkt der Portier freundlich und stellt den obligatorischen Passierschein nicht mehr aus. Die Büros haben gepolsterte Türen. Um die Mittagszeit belegen Rentner die Kantine. Sie sind ehemalige Beamte und dürfen hier auf Lebenszeit essen.

In mehreren Etagen des Ministeriums wird aufgeräumt, das Mobiliar ausgetauscht, umgebaut. Überall klopfen, hämmern und bohren Bauarbeiter. Auch László Vajda musste gerade in ein neues Büro umziehen. In seinem Zimmer stehen Kisten mit Aktenstapeln. Durch die offene Tür dringt Baulärm. „Hallo, hier ist Anita von der Integration“, flötet die Sekretärin ins Telefon.

Einer von Vajdas Mitarbeitern kommt mit Papieren unterm Arm herein. Die beiden sehen Listen durch. Wen aus der EU-Abteilung könnten sie in Brüsseler Ausschüsse schicken? Der eine ist Spezialist, spricht aber schlecht Englisch, bei dem anderen ist es genau umgekehrt. Bald müssen die Vorschläge auf dem Tisch des Ministers liegen. „Na ja, hm, es wird sich was ergeben“, brummt Vajda.

Es ist nach sechs. Längst hat der U-Bahn-Schacht am Kossuth-Platz den Hauptstrom der Angestellten verschluckt. Vajda wird noch die Post des Tages durchsehen, später Akten. Wohl bis acht. Er sagt: „Es war für mich immer eine schöne Aufgabe, im Ausland Informationen über die Landwirtschaft meines Landes zu verbreiten.“

Dann fasst er seine Philosophie der EU-Erweiterung in einem großen, weiten Schlusssatz zusammen. „Auf beiden Seiten ist der Prozess von Bedenken dominiert, zum Beispiel bei den Bauern, aber kommt man dann zusammen, spricht man miteinander, dann erkennt man, dass ein Bordeaux nicht dasselbe ist wie ein Villanyer Rotwein, und das gilt ebenso für Salami, Mais, Obst und Käsesorten.“

Langsam dämmert es. Draußen strahlen Scheinwerfer das Ministerium an. Gegenüber, im Parlament, gehen die Lichter aus. Ein Stück weiter donauaufwärts fährt auf der Linie 4/6 eine blaugelbe EU-Straßenbahn über die Margarethen-Brücke.