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Archiv-Artikel

Mindestens eine Million China-Gegner

In Taiwan demonstriert die Bevölkerung mit einer Menschenkette quer über die ganze Insel ihr Selbstbewusstsein gegenüber der Regierung in Peking, die immer wieder droht, eine Unabhängigkeitserklärung notfalls gewaltsam verhindern zu wollen

AUS TAIPEH CHIKAKO YAMAMOTO

Es ist der 28. 2. und das Stichwort heißt „2.28 Uhr“. Auf die Minute warten ein, wenn nicht gar zwei Millionen Taiwanesen. Sie sitzen irgendwo auf der Straße entlang einer 500 Kilometer langen Strecke zwischen der Nord- und der Südküste der Insel. Um genau 28 Minuten nach zwei wollen sie aufstehen und die Hände halten. So wollen sie den Chinesen zeigen, was es heißt, „Taiwan zu beschützen“ und auf der Insel „für Frieden und Demokratie einzutreten“.

In der Hauptstadt Taipeh, vor dem am Wochenende gut besuchten japanischen Sogo-Kaufhaus, hockt schon seit der Mittagsstunde ein geschäftsmäßig gekleideter Kollegenkreis. „Ein Bruder von mir wurde damals von der Kuomintang ermordet“, rechtfertigt der 73-jährige Unternehmensberater Lin Why Yi seinen Protest. Denn das ist das Außergewöhnliche an diesem Tag: Es geht nicht nur um Frieden zwischen Taiwan und der Volksrepublik China, gegen dessen 500 auf Taiwan gerichtete Kurzstreckenraketen die Demonstranten in erster Linie aufbegehren. Zugleich sorgt der 57. Jahrestag des so genannten „Zwischenfalls vom 28. Februar 1947“ für die Besinnung auf den in der Geschichte wohl schrecklichsten Zusammenstoß zwischen Taiwanesen und Chinesen.

Über 10.000 Menschen starben damals bei einem Massaker der Kuomintang (KMT) an der aufständischen Inselbevölkerung. Zwei Jahre später zog sich KMT-Chef Tschiang Kai-schek nach Chinas verlorenem Bürgerkrieg nach Taiwan zurück. Das seiner Herrschaft vorausgegangene Massaker verschwieg er sein Leben lang. Das macht es heute noch zum Symbol taiwanesischer Kritik an China.

Denn darum geht es am Tag der größten Demonstration der Inselgeschichte: um Taiwans Verhältnis zu China. Zwar gibt das kein Politiker offen zu. „Als Taiwanese fühle ich mich heute vergleichsweise stolz“, sagt Taiwans Präsident Chen Shui-bian. Doch schon das eingeschobene Wörtchen „vergleichsweise“ deutet auf den Kern der Botschaft. Es meint den Vergleich mit den Festlandchinesen, die sich aus Sicht Chens nicht so stolz dünken dürfen wie die Taiwanesen.

Was davon in den Worten des Präsidenten unausgesprochen bleibt, beschreibt Unternehmensberater Lin ohne Zögern: „Wir bauen unser Land heute selbst auf. Der Demokratisierungsprozess ist mühsam und verschlingt viel Zeit. Aber er geht weiter. Das bedeutet: Mit der Volksrepublik, die uns mit ihrem Militär droht und die Menschenrechte missachtet, gibt es für uns keine gemeinsame Zukunft.“

Das erklärt auch, warum Peking, was die Ereignisse auf Taiwan betrifft, an diesem Wochenende eisern schweigt. Hat der taiwanesische Außenseiter Chen Shui-bian, ein früherer Menschenrechts- und Dissidentenanwalt, der mächtigen KP wieder ein Schnippchen geschlagen? So war es im März 2000, als Chen mit weniger als 40 Prozent der Stimmen gegen eine gespaltene KMT seine Präsidentschaft gewann. In drei Wochen sind erneut Wahlen und die KMT ist wieder geeint. Doch gewonnen hat sie deshalb noch nicht. Auch das macht der Samstag klar.

Lin winkt eine junge Mitarbeiterin herbei, die unter dem grauen Business-Jackett ein grünes T-Shirt mit der Aufschrift „I love Taiwan“ trägt. Vom Massaker vor 57 Jahren hat die Frau noch nichts gehört. Aber eines weiß sie: „Ich bin Taiwanesin und nicht Chinesin.“ Deswegen unterstütze sie Chen Shui-bians Politik. Der rede klar von Taiwans Souveränität, während die KMT nicht wage, sich von Peking zu distanzieren. „Da haben sie es. So denkt die Jugend. Sie macht sich keine Sorgen“, lacht der alte Lin.

Doch Taiwans Jugend hat einen greisen Führer. 83 Jahre ist Lee Teng-hui alt, seine Gesundheit nicht mehr die beste. Als Chef der „Taiwanesischen Solidaritätsunion“ ist er am Samstag der Veranstalter. In einem offenen roten Jeep fährt der Vorgänger Chens im Präsidentenamt wie in einem Triumphzug die am Straßenrand winkende Menge ab. „Obwohl er schon so alt ist, ist er noch so engagiert“, lobt ein junger Demonstrant. „Er ist derjenige, der mit der Demokratisierung begann und dem Taiwans Unabhängigkeit heute alles ist.“

Ihm machen sie alles nach. Auch Lee trägt ein T-Shirt mit „I love Taiwan“, als er um Punkt 2.15 Uhr mit Chen auf einer Kleinstadtbühne in Miaoli City zusammentrifft. Kurz darauf ist es so weit: Lee und Chen reichen sich die Hände – und zur gleichen Minute tun es ein, nach Veranstalterangaben sogar zwei Millionen Taiwanesen. Hubschrauber der Fernsehanstalten überfliegen die Insel. Sekunden später berichten die Sender, die Menschenkette von Nord nach Süd sei lückenlos. „Zu sehen, wie über eine Million Menschen ihre Liebe zu Taiwan zeigen, ist der anrührendste Moment meines Lebens“, sagt Expräsident Lee.

So großvaterhaft harmlos, wie das klingt, ist die Atmosphäre. Viele nutzen die Menschenkette für einen Wochenendausflug. Überall wird gepicknickt. „Meine Tante ist politisch aktiv. Sie hat uns alle mitgeschleppt“, schmunzelt die 25-jährige Sophia Wu. An Wus Haltung gibt es keinen Zweifel: „Wir fühlen uns alle als Taiwanesen. Wir sind hier aufgewachsen und leben hier. Von der Unabhängigkeit Taiwans will ich nicht laut sprechen. Aber sie ist eine Tatsache.“ Währenddessen macht Wus jüngere Schwester mit der Digitalkameras Familienfotos. Als ahnten beide Frauen nicht, welch ungeheure Provokation ihre Haltung für viele Chinesen bedeutet.

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