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Archiv-Artikel

410 Meter unterhalb der Wahrheit

„Die Hölle dauert eindreiviertel Stunden. Dieses Buch auch“: Mit „Windows on the World“ hat der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder einen Roman über den 11. 9. geschrieben. Das Buch ist religiös und erzkatholisch geworden, grell und laut

VON JÖRG MAGENAU

Frédéric Beigbeder ist ein erstaunliches Phänomen. Als er vor drei Jahren mit „39,90“ einen Roman über die Werbebranche veröffentlichte, in der er arbeitete, verlor er postwendend seinen hoch bezahlten Job in der Agentur „Young & Rubicam“. In seiner Branche galt er als Nestbeschmutzer, außerhalb davon als Rebell wider die Widerwärtigkeit des Kapitalismus. Das Buch wurde zum Bestseller, der Autor zu einem Star, der in Frankreich zusammen mit dem Weltekelbekunder Michel Houellebecq – mit dem er befreundet ist – und der Pornografieschockerin Catherine Millet ein Trio infernal des literarischen Skandals bildet. In Deutschland wurde „39,90“ gar als „Manifest der nächsten Revolte“ angekündigt. Schließlich ist Beigbeder Franzose, und Franzosen sind hierzulande von Heine bis Houellebecq traditionsgemäß fürs Revolutionäre zuständig. Ihnen ist erlaubt, was deutschen Autoren eher als Anmaßung ausgelegt wird: den Verhältnissen auf althergebrachte Weise die Maske vom Gesicht zu reißen oder ihnen wenigstens freundlich einen Spiegel vorzuhalten.

Vielleicht ist Frédéric Beigbeder damals aber auch nur ein werbewirksamer Branchenwechsel geglückt. Schließlich ist er ja Fachmann für Werbetechniken. Bei einer Lesung in Berlin konnte man erleben, wie er blitzschnell die zu Fäusten geballten Hände hob. Doch er rief nicht, wie es zur Pose gepasst hätte: „Venceremos!“ oder: „No pasaran!“, sondern er sagte ins Mikrofon: „Hallo Berlin!“ Das war ironisch und also ziemlich ernst gemeint, denn Frédéric Beigbeder ist, wie alle Rebellen seit Che Guevara, ein Popstar. Der Titel seines Romans, der zugleich dessen Preis ist, stand in großen Ziffern wie ein Menetekel hinter ihm an der Wand: „39,90“. Weil der Warenförmigkeit sowieso nicht zu entkommen ist, kann man sie auch gleich zur Botschaft machen. „Ich gebe Geld aus, also bin ich“, hieß es im Roman.

Beigbeder schaffte es, als fundamentaler Werbekritiker in einer Werbeveranstaltung des Verlags für sein eigenes Produkt aufzutreten und aus dem eigenen Namen eine Produktbezeichnung zu machen: BEIGBEDER. Er entledigte sich dieses Widerspruchs durch einen Trick. Ich bin käuflich, sagte er, und ich verschweige es nicht. Der Erfolg meines Buchs führt vor, wie gefährlich Werbung ist. Also kauft es, auch wenn es nichts taugt, denn dadurch erweist sich die ganze Lüge des Kapitalismus, und ich werde reich und berühmt. Ist das nicht wunderbar? Ironie bewährte sich als nützliches Gleitmittel, das gesellschaftliche Reibung minimiert und erlaubt, die Verhältnisse zu verspotten, von denen man profitiert.

Ein paar Monate später krachten zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers. Das Ereignis muss den sensiblen Autor nachhaltig verstört haben. Falls er es zuvor noch nicht wusste, wurde ihm jetzt klar, dass der Kapitalismus auch manche verteidigenswerte Errungenschaften hervorgebracht hat, Dinge, für die es sich zu kämpfen und zu sterben lohnt: mit einem Kumpel im Porsche herumfahren und dabei Champagner auf die Gucci-Schuhe zu schütten beispielsweise. So formulierte Beigbeder es kürzlich in einem Interview, und selbstverständlich war auch das ironisch.

Es nimmt also nicht wunder, dass er der Erste ist, der einen Roman über den 11. September geschrieben hat. „Windows on the World“ lautet der nach Hollywood-Vorbild unübersetzte Titel, denn so hieß das Restaurant in den oberen Etagen des World Trade Centers. Auch wenn Beigbeder im Buch immer wieder bekundet, wie sehr er sich dafür schämt, die Katastrophe für sein literarisches Fortkommen auszubeuten, lässt er sich von diesen Gefühlen nicht abhalten. In pathetischer Geste widmet er den Roman „den 2.801 Toten“ und stellt den 11. 9. 2001 dem 9. 11. 1989 gegenüber: Damals ging die kommunistische Utopie zugrunde, nun die kapitalistische, falls man da von einer Utopie reden will. Die einstürzenden Türme des World Trade Centers sind ein Symbol für Börsencrash und Niedergang. Seither ist die westliche Welt vom Zweifel befallen. Vom Luxus zu träumen ist ein wenig lächerlich geworden. „Windows on the World“ leistet die nötige Trauerarbeit. Wie symbolkräftig, dass die amerikanische Notrufnummer Nine-Eleven lautet.

Oberflächlich betrachtet behandelt der Roman aber gerade nicht die symbolische Qualität des Ereignisses. Beigbeder versucht sich vielmehr ganz konkret vorzustellen, was dort oben zwischen dem Einschlag der Flugzeuge und dem Einsturz vorgegangen sein könnte. Er glaubt, das Geschehene lasse sich besser verstehen, wenn er beschreibt, wie der Rauch gerochen hat, wie die erhitzten Handläufe im Treppenhaus sich anfühlten, wie die Menschen „Oh, my god!“ schrien. „Manchmal ist Einbildungskraft der einzige Weg, um Wahrheit herauszubekommen“, sagt er. Wahrheit wäre dann allerdings nicht viel mehr als eine Serviceleistung für Fantasielose. Beigbeder muss schließlich selbst zugeben, „410 Meter unterhalb der Wahrheit“ zu bleiben, was die Ausfantasierung des Grauens betrifft.

Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein geschiedener Immobilienmakler, der mit seinen zwei kleinen Söhnen im WTC frühstücken wollte und nun wie alle anderen in der Falle sitzt. Er telefoniert mit seiner Geliebten und versucht die Söhne dadurch abzulenken, dass er Feuer, Rauch, Trümmer und Hitze für eine Übung und schließlich für einen sehr realistischen Filmdreh erklärt. Die Söhne hoffen unterdessen darauf, ihr Vater verwandle sich endlich in Superman. Politisch korrekt bestückt Beigbeder das Innere der Katastrophe mit einem Christen, einem Juden, einem Araber und einer schwarzen, herzensguten Barfrau. Dazu gesellt er ein unvorstellbar flachsinniges Paar, das sich ausgiebig über Börsenkurse unterhält, um schließlich in der Hitze des brennenden Gebäudes auf dem Restauranttisch ultimativ zu vögeln und einen finalen Dialog anzustimmen: „ ‚Ich habe mir meine Muschi für dich laserepilieren lassen‘, sagt die Blondine in Ralph Lauren. ‚Komm, press mir zum letzten Mal den Saft aus den Eiern‘, sagt der Dunkelhaarige in Kenneth Cole.“ Da ist es bereits 10.15 Uhr, es bleiben bis zum Orgasmus nur noch ein paar Minuten.

„Hyperrealistisch“, wie der Autor behauptet, ist das wohl kaum. Mit voll aufgedrehtem Pathosgebläse erklärt Beigbeder: „Die Hölle dauert eindreiviertel Stunden. Dieses Buch auch.“ Er schwingt sich auf ins Religiöse und setzt ein literarisches Purgatorium in Gang. Im Fegefeuer des Terrorakts werden die Opfer von den Sünden der kapitalistischen Zivilisation gereinigt – vielleicht sind es deshalb so ausnehmend blöde Gestalten, die uns da vorgeführt werden. Mit Sätzen wie „Streck deine Zunge heraus, damit ich dein Piercing an meiner Eichel spüre“, fahren sie endlich zur Hölle. Man kann sagen: Allzu schade ist es nicht um sie. „Es ist Zeit, eine neue Religion zu begründen, deren Symbole zwei brennende Türme sind“, witzelt Beigbeder, kann aber nicht verheimlichen, dass er das eigentlich ganz ernst meint. „Windows on the World“ ist ein religiöses, erzkatholisches Buch.

Er selbst spielt als Frédéric Beigbeder die zweite Hauptfigur des Romans auf einer zweiten Handlungsebene. Ein Jahr nach dem 11. 9. macht der Autor sich daran, sein Buch zu schreiben, und berichtet davon. Er frühstückt in einem Hochhaus in Paris, liest einen New-York-Reiseführer, reflektiert über das amerikanisch-französische Verhältnis und den europäischen Antiamerikanismus, denkt darüber nach, wie es wäre, wenn jetzt ein Flugzeug einschlüge, und rekapituliert sein langweiliges Leben, das ihn allenfalls deshalb traumatisiert habe, weil er kein Trauma hat. Schließlich gelangt er nach New York, sucht den heiligen Ort des Gedenkens, Ground Zero, auf und vergnügt sich in diversen Sexbars. Das Leben geht weiter, das ist die Botschaft. Und es ist dasselbe, nichtige, vergnügungssüchtige Leben, das auch die Opfer des 11. 9. führten.

Auf merkwürdige Weise prallen da zwei Weltanschauungen aufeinander. Auf der einen Seite steht die Feier von Freiheit und Individualität als den höchsten Werten der westlichen Zivilisation. Auf der anderen eine Dekadenzahnung und Untergangsgewissheit, aus der das katholische schlechte Gewissen des Hedonisten spricht. Es gibt keinen Glauben mehr, nur noch den Genuss, aber der Genuss ist hohl. Aus diesem Widerspruch rettet sich Beigbeder in die Ironie und in den Kitsch. Mit Ironie, der nichts heilig ist, erhebt er sich über die Widersprüche. Mit Kitsch, dem nichts Profanes edel genug ist, schafft er Bedeutung aus dem Nichts und produziert Sätze wie: „Alles wirkt schöner im Regen, der nichts abwäscht, am wenigsten unsere Sünden.“ So gelingt es ihm, Sinnlosigkeit zu zeigen und Sinn zu produzieren, die Gesellschaft zu kritisieren und zugleich religiös zu erhöhen.

Wie unpräzise das dahingesprochen ist, zeigt sich, wenn er von der Oberfläche des Geschehens in die historische Tiefendimension vorstoßen will. Dann erklärt er nebenbei einmal alle amerikanischen Künstler für Marxisten, weil sie die Welt verändern wollen. Oder er behauptet, endgültig jenseits von aller Erkenntnis: „Das Windows on the World war eine Luxus-Gaskammer. Seine Gäste wurden vergast, verbrannt und zu Asche wie in Auschwitz. Wir schulden ihnen das gleiche Gedenken.“ Die Ungeheuerlichkeit dieses Blödsinns und der Verlust jeder historischen Differenzierungsfähigkeit muss ihm selbst bewusst geworden sein, denn er ergänzt in Klammern: „Seite gestrichen.“ Trotzdem ist sie da. Das Verneinte leuchtet umso heller. So funktioniert die Ironie. Man darf Beigbeder an keiner Stelle ernst nehmen, denn er produziert nicht Wahrheit, sondern Sprüche. Statt Schönheit erstrebt er den Effekt. Das Grelle, das Laute, das Unübersehbare. Deshalb musste es auch der 11. September sein. Und weniger als Auschwitz wäre einfach nicht schockierend genug. Da wäre es doch besser gewesen, Beigbeder hätte auf sein Schamgefühl gehört und darauf verzichtet, das Sterben im WTC in ein flottes Szenario zu verwandeln.

Frédéric Beigbeder: „Windows on the World“. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Ullstein Verlag, München 2004, 380 Seiten, 22 Euro