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Archiv-Artikel

Radikal sein ohne Risiko

Im Bundesrat entscheiden CDU/CSU vor allem über die Sozialhilfe. Das erklärt so manchen Vorschlag in ihrem Reformpapier

aus Berlin ULRIKE HERRMANN

Man hätte meinen sollen, es freue die Bundesregierung, wenn sich die Union möglichst lange streitet und ebenfalls unter einer „Kakophonie“ der sozialpolitischen Vorschläge leidet. Aber so lautet die offizielle Sprachregelung nicht. Stattdessen: Man „begrüße“ die Einigung von CDU und CSU auf ein eigenes Reformprogramm. Bundeskanzler Gerhard Schröder ließ gestern umgehend ausrichten, er sei zu Gesprächen bereit. Wann und ob es zu einer konkreten Einladung an die Union kommt, blieb allerdings offen.

Das dürfte der Opposition entgegenkommen. Es drängt die Union nicht besonders, einen Besuch im Kanzleramt abzustatten. Gestern teilte die CDU-Chefin Angela Merkel denn auch mit, man wolle erst einmal die Gesetzesvorlage aus dem Bundestag abwarten, ehe man mit der rot-grünen Koalition verhandelt, was davon im Bundesrat durchkommt. Denn die Union kann nur gewinnen, wenn sich der parteiinterne Streit bei der SPD und bei den Grünen möglichst lange hinzieht.

Aber auch dies deckt sich mit Schröders Interessenlage: Eine vorzeitige Einigung mit der Union würde ihm ebenfalls nicht nützen. Er wird auf einer eigenen Kanzlermehrheit bestehen müssen. Nur so kann die Erpressung der linken Kritiker funktionieren – indem Schröder plausibel die Vertrauensfrage stellen kann.

Dennoch ist es für ihn erfreulich, dass sich die Union entschieden hat, mit „unpopulären Maßnahmen“ an die Öffentlichkeit zu treten. Vieles deckt sich weitgehend mit der Agenda 2010 – und lässt sich damit als notwendiges Übel gegenüber den Genossen darstellen (siehe Kasten). Anderes, besonders bei der Sozialhilfe und beim Kündigungsschutz, geht über die Schröder-Pläne hinaus. Auch schön. Das liefert der Basis eine Antwort auf die bange Frage, was die SPD noch von der Union unterscheiden könnte.

Was sich die Union vorstellt, ist jedoch beim Kündigungsschutz, bei der Rentenhöhe und beim Arbeitslosengeld unerheblich. Dies ist im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig; Rot-Grün kann hier allein entscheiden. Das erklärt wohl so manchen etwas radikalen Punkt im gemeinsamen Unionspapier. So sieht es etwa vor, im ersten Monat das Arbeitslosengeld um 25 Prozent zu senken. Das hätte jährlich etwa vier Millionen Menschen betroffen – und zwar ganz besonders in Bayern. Denn dort ist die Saisonarbeit in Tourismus und Landwirtschaft stark verbreitet, Auszeiten werden immer wieder mit Arbeitslosengeld überbrückt. Aber da Rot-Grün dieser Karenzzeit nie zustimmen wird, muss Stoiber nicht den besorgten Landesvater geben und kann sich beruhigt als entschlossener Reformer profilieren.

Wirklichen Einfluss hat die Union allerdings bei der Sozialhilfe, denn die geplante Zusammenlegung mit der Arbeitslosenhilfe muss durch den Bundesrat. Und hier schlägt die Union nun vor, dass die Sozialhilfe für Arbeitsunwillige pauschal um 30 Prozent zu kürzen sei. Arbeitsunwillig wiederum ist jeder, der nicht jeden Job annimmt. Jeden. Selbst miserabel bezahlte Stellen müssten akzeptiert werden. Es gäbe nur noch eine Minimalsicherung: „Wer arbeitet, soll mindestens das bisherige Sozialhilfeniveau erreichen.“

Falls sich die Union durchsetzt, wird Lohndumping zum Massenphänomen. Denn in Deutschland gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn. Daher haben die Arbeitslosenunterstützung und die Sozialhilfe bisher eine wichtige Schutzfunktion: Niemand kann gezwungen werden, für weniger Geld zu arbeiten. Allerdings geschieht es auch jetzt schon gelegentlich. Ende 2001 hatten 60.000 Menschen einen Vollzeitjob – und bekamen gleichzeitig ergänzende Sozialhilfe.

Die Union kann dies nicht als Skandal sehen, sondern nur als Fortschritt. Stoiber nannte sein Programm gestern: „Solidarität mit den Arbeitslosen“.