: Szenarien für die Zukunft
Das Grenzgebiet im Visier von Zukunftsforschern
Wo ein Blick in die Zukunft verlangt ist, darf es auch erlaubt sein, aus der Zukunft zurückzublicken. Das hat sich der Zukunftsforscher Rolf Kreibich gedacht, als er vom Institut für ökologische Raumentwicklung beauftragt wurde, Szenarien für die Zukunft der Grenzregion zu entwerfen.
Kreibich versetzte sich gedanklich in eine Zeit irgendwo um 2020 und ließ seinem Staunen freien Lauf. Darüber, dass die Krankenkassen 2007 angekündigt haben, die Versicherungen der anderen Seite anzuerkennen. Oder darüber, dass beide Städte sogar ihre nationale Souveränität aufgegeben haben, um 2016 zur ersten gemeinsamen Kommunalwahl anzutreten.
Kreibichs Blick in die Zukunft, das wird schnell deutlich, ist kein an empirischen Daten von heute fortgeschriebenes Szenarienmodell, sondern eine Vision, wenn auch eine überaus wünschenswerte. Allein schon deshalb unterscheidet er sich von den Szenarien der anderen Experten, die das IÖR ins Feld geschickt hatte. Doch Kreibichs Blick ist auch deshalb problematisch, weil er fortsetzt, wovon man in Görlitz und Zgorzelec oder in Frankfurt und Słubice eigentlich genug hat: Visionen, deren Entfernung vom Alltag täglich erlebbar ist. Aus der sicheren Distanz und mit einer Rückfahrkarte in der Tasche denkt man anders über eine Region als die, die in ihr leben.
Dass Kreibichs Vision eine Ausnahme blieb und sich die anderen Wissenschaftler an die Vorgaben gehalten haben, auf der vorhandenen und erwartbaren Datenbasis wahrscheinliche, zu befürchtende und zu erhoffende Zukünfte zusammenzutragen, macht die Szenariensammlung des IÖR unter der Projektleitung von Ingo Neumann zu einem bislang einzigartigen Fundus an Zukunftswissen über die deutsch-polnische Grenzregion.
Dabei kann der Blick nach vorne durchaus auch pessimistisch sein, wie die Arbeit des Soziologen Jörg Dürrschmidt über die Identitätsentwicklung in der Grenzregion zeigt. Schon in seinem Szenarium „Wahrscheinliche Entwicklung“ geht er davon aus, dass es nicht zu einer „Border-Culture“ wie an der amerikanisch-mexikanischen Grenzregion kommen wird, „in der die Identifikation mit dem Grenzraum signifikanter ist als die mit dem jeweiligen Nationalstaat“. Im Szenarium „Negative(re) Entwicklung“ schreibt er: „Eine durch zunehmende ‚Peripherisierung in den Köpfen‘ gekennzeichnete Alltagskultur deutet jeden neuen Leitbildversuch als Hohn auf enttäuschte Hoffnungen.“
Es ist nicht erstaunlich, dass das Thema Identität den größten Raum einnimmt, schließlich ist dies die größte Unbekannte im Blick nach vorn. Ob sich die Einwohner von Görlitz und Zgorzelec einmal als Bewohner einer gemeinsamen Region oder noch immer als die einer geteilten Stadt begreifen, ob sich neben der regionalen womöglich sogar eine europäische Identität herausbildet, hängt allerdings nicht nur vom guten Willen der kommunalen Akteure ab. Eine gemeinsame Identität, die nicht nur die europäischen Pioniere wie Künstler und Studenten formulieren, ist ohne eine wirtschaftliche Konsolidierung der Region nur schwer denkbar.
Gerade hier aber gehen die Szenarien weit auseinander. Das Horrorszenarium dabei ist ein „froschartiges Überspringen“ der Grenzregion, der in diesem Fall zwischen den wirtschaftlichen Zentren Berlin und Posen oder Dresden, Breslau und Prag eine weitere Peripherisierung drohe. Im besten Fall dagegen gelingt es, grenzüberschreitende und innovative unternehmerische Netzwerke zu gründen, die ihren Platz zwischen diesen Zentren finden.
Eine Hoffnung haben die Zukunftsforscher ohnehin aufgegeben: dass die Bevölkerung wieder wachsen könnte. Allenfalls lasse sich die Abwanderung verlangsamen. Dies schließe aber nicht aus, dass die Grenzbewohner eines Tages zurückkehren und mit ihren in Berlin oder Warschau erworbenen Qualifikationen die Zivilgesellschaft in der Region stärken. Doch das ist schon wieder Zukunftsmusik. UWE RADA