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Archiv-Artikel

Die Realitätsgarantin

Sie ist rotzig, instinktsicher, zäh, schlagfertig – und offen, zärtlich und weich wie der Regen: Ein Porträt der SchauspielerinFritzi Haberlandt, die in Lars Büchels Film „Erbsen auf halb 6“ als Lilly und im Hamburger Thalia Theater als Lulu brilliert

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Die Männer tropfen an ihr ab wie heiße Butter. Sie spielt mit deren Fantasien vom Weib wie mit Seifenblasen, lässt sie ganz nach Laune eine Zeit lang in der Luft zitternd stehen, bevor sie zerplatzen. „Lulu“ 2004, gut dreißig Jahre, nachdem Begriffe wie „Männerfantasien“ und „Projektionsfläche“ zum Allgemeingut wurden: Fast bewegungslos steht sie vor einer leeren Leinwand, in kurzen, glänzenden Kleidern, kindlich kniebestrumpft, die langen, dünnen Glieder ausgestellt wie von einem Körper, der noch nicht fertig ist mit Werden.

Die „Lulu“ von Fritzi Haberlandt, die in der Regie von Michael Thalheimer jetzt am Hamburger Thalia Theater Premiere hatte, unterläuft alle Klischees einer Femme fatale und ihrer Aura des todbringenden Eros. Sie ist ein Kind, das nicht mitspielt bei den Regeln der gesellschaftlichen Tauschsysteme. An ihr bricht sich die Energie der Männer, die Akt für Akt die Hosen fallen lassen wie an einem Autobahnpfeiler.

Lilly dagegen ist zärtlich und weich wie der Regen, der in Lars Büchels liebesseligem Film „Erbsen auf halb 6“ unentwegt fällt. Da spielt Fritzi Haberlandt eine blinde Frau, ausgezeichnet mit einer unendlichen Wachheit des Körpers. Sie hört am Klang der Regentropfen, wer vor ihr steht. Das hat die Schauspielerin herausgefordert, mit offenen Augen das Sehen zu verlernen: eine Übung darin, dem Sein mehr zu vertrauen als dem Schein. Man glaubt es ihr jeden Augenblick, die Übersetzung der Erfahrung aller Sinneseindrücke (außer dem Augensinn) in innere Bilder von einer Intensität, die Sehende nur schwer erreichen.

Der morgige Filmstart von „Erbsen auf halb 6“ und die Theaterpremiere wenige Tage zuvor haben einen Fritzi-Haberlandt-Boom ausgelöst. Die 28-jährige Schauspielerin wird auf den Titelseiten von Stadtmagazinen und Programmbeilagen gefeiert. Ihre Geschichte des Erfolgs ist eng mit der des Thalia Theaters und der Regisseure Michael Thalheimer und Armin Petras verbunden.

Haberlandt verkörpert mehr als ihre Rollen: Sie steht für etwas wie das ehrliche Arbeitsethos der Kunstmacher. Sie ist eine Antwort auf die Sehnsucht nach der verschwundenen Kraft des Proletariat – rotzig, instinktsicher, zäh, widerständig, schlagfertig, mit einer Energie, die aus dem Willen kommt, und immer in der Lage, jede Spur von Pathos schon von weitem mit Witz zu brechen. Für ihre Regisseure ist sie ein Garant, sich den Vorwurf des Elitären vom Leib zu halten und in der Realität Anker zu werfen. Das schafft sie. Selbst dann noch, wenn es sich um solche synthetisierten Kunstfiguren wie Wedekinds Lulu handelt und um ein Regiekonzept, das in der Eindimensionalität, mit der sich die Männer als armselige und wenig realitätstaugliche Schweine erweisen, doch etwas spannungslos daherkommt.

Schon wie sie die Konturen ihres Körpers in den Raum stellt, mit hartem Strich, der nichts verdeckt: Das ist untrüglich. Das kantige Kinn, der breite Mund, dessen Winkel Spottlust bis in die hinteren Sitzreihen blitzen lassen, die Bereitschaft zur Clownerie: Immer denkt man, typisch Fritzi Haberlandt, als wäre sie immer sie selbst. Dabei verändern sich von Stück zu Stück und Film zu Film nicht nur die Rollen, sondern auch, wie sie sie anpackt.

In „Erbsen auf halb 6“ glaubt man, ihr bis auf die Knochen zu sehen, die Verletzbarkeit unter der nur aus Überlebenstraining gebildeten Haut zu spüren. Der Film verklärt die Blindheit zu einem Zustand höherer poetischer Wahrnehmungsfähigkeit. In der Liebesgeschichte zwischen zwei Blinden passt der Regisseur Lars Büchel die Ereignisse ständig einem Schema zur Steigerung der Gefühle an. Die beiden reisen durch ein malerisch zerfallenes Osteuropa, begegnen vielen folkloristischen Ritualen und streiten sich herzzerreißend. Eigentlich ist das Kitsch, dessen Genuss man nicht gerne zugibt. Aber auch darin ist Fritzi Haberlandt so gut, dass man nicht meckern möchte.

Haberlandts Geschichte ist auch eine der Wende, und in der Begeisterung ihres Publikums blitzt eine Liebeserklärung an den untergegangenen Osten auf. 1975 in Ostberlin geboren, zog sie 1991 mit ihrer Familie nach Hamburg. Da verliebte sich die sechzehnjährige Schülerin ins Theater, genauer, in das Thalia Theater. Sie studierte, wieder in Berlin, an der Ernst-Busch-Schule und lobt noch heute deren Vermittlung von Handwerk, Disziplin, Körperbewusstsein, Rollen- und Textarbeit. Dort wurde sie von Robert Wilson entdeckt, der sie für seine Oper mit Studenten „Saints and Singing“ nach Gertrude Stein einsetzte. Er verlangte das Gegenteil von dem, was sie gerade lernte. Seitdem weiß sie, „es gibt mindestens zwei Wahrheiten und deshalb vermutlich auch eine dritte“.

Sie hat in Berlin, New York und Hannover gespielt, bevor sie 2000 an die Stätte ihrer Initiation, das Thalia in Hamburg, kam. Mit ihr viele andere Darsteller aus dem alten Osten, die den Regisseur Armin Petras überredeten, hier seine Fritz-Kater-Trilogie über den Alltag in der DDR herauszubringen. Fritzi Haberlandt gehört zu dem Team seiner Patchworkfamilien, die sich bei allen verdrehten Schicksalsschlägen als zuverlässiger erweisen als der Sozialismus und der Kapitalismus. Am liebsten sah ich sie in „Fight City“ von Petras: Da spielt sie eine ehemalige Gymnastikerin, inzwischen mit einem Wirbelsäulenschaden, die mitten in ihrem Hunger nach Leben immer wieder von Schmerzen ausgebremst wird. Sie kennt den Ehrgeiz, die Disziplinierungen und die Entbehrungen – und obwohl sie nichts von dem bekommen hat, was dafür versprochen wurde, ist sie weder verbittert noch sauer. Nur vormachen kann man ihr nichts. Nie wieder.

Das scheint dann doch das Gemeinsame ihrer Rollen: Die anderen strengen sich immer so an, ein Bild von sich zu entwerfen. Sie dagegen wartet ab, bis das Theater vorüber ist. Das macht auch den Ton ihres Spiels aus. Immer etwas unterhalb der Kunsthöhe, immer mit einer Spur Dilettantismus die Perfektion unterlaufend.