: Die Genossen Opferlämmer
Die PDS-Basis versteht die Welt nicht mehr und hält trotzdem still. Der Bundesvorstand zerstückelt sich selbst und die SPD wird immer ruppiger. Aber Landeschef Stefan Liebich hat noch ein größeres Problem, siehe die Debatte um die Agenda 2010. In der PDS findet sich keine Vision, nirgends
von ULRICH SCHULTE
Im Bezirksbüro Marzahn-Hellersdorf hat es noch seine Ordnung mit dem demokratischen Sozialismus. Broschüren bezahlen die Genossen per Blechbüchse, der „Kasse des Vertrauens“, daneben harrt auf Kante gelegt der Spendenaufruf fürs Landkinderheim Kuba, und Bezirksfraktionschef Klaus-Jürgen Dahler erzählt und erzählt von Bezirksproblemen (37 Millionen Euro Schulden), Z-Mitteln (Z wie Zuwendung) und Entschuldung (finanzieller Rettungsring).
Dahler, 47, ist ein kleiner Mann, der eine Bezirksverordnetenversammlung apathisch reden, aber auch große Politik machen kann: Kanzler Schröders Agenda 2010? „Sturm müsste die PDS laufen, richtig kampagnenhaft dagegen vorgehen.“ Weißensee, Prenzlauer Berg und Pankow melden „Angst, richtig existenzielle Angst“. Die Genossen seien „entsetzt und sorgenvoll“, berichtet Fraktionschef Michael van der Meer, „um es mal vorsichtig zu sagen“.
Die Berliner PDS hat, vorsichtig gesagt, einige Probleme: Ihre Basis versteht die Welt nicht mehr. Ihr Bundesvorstand verschläft die tiefgreifendsten Sozialreformen der Republik und entmachtet sich dann selbst. Und der Landesverband, wegen des brutalen Sparkurses sowieso misstrauisch beäugt, muss sich mit einer ruppiger auftretenden SPD herumschlagen. Denn nach einem ruhigen ersten Jahr brechen innerhalb der rot-roten Koalition Brände aus, immer nach ähnlichem Muster: Finanzsenator Sarrazin (SPD) zündelt am Koalitionsvertrag, die PDS hantiert hektisch mit dem Feuerlöscher.
Die Erhöhung der Kita-Gebühren zum Beispiel, für die Sozialisten immer ein absolutes Tabu, stand per Zeitung plötzlich zur Disposition – „eine ungeheure Provokation“, heißt es innerhalb der PDS-Fraktion. Auch beim Schulbuch-Kauf preschte die SPD vor, mit dem Kompromiss – pro Kind und Jahr sollen Eltern bis zu 100 Euro bezahlen – fühlen sich einige über den Tisch gezogen: „Sogar 40 Euro sind noch happig. Wir hätten mehr auf unseren Forderungen beharren müssen“, sagt Wolfgang Brauer, der für die Sozialisten im Kulturausschuss sitzt. Die PDS muss ihrer Klientel durch die Beteiligung an einer Sanierungskoalition früher undenkbare soziale Härten zumuten. Die Wut Einzelner ist daher nicht neu, aber die Missverständnisse zwischen den Koalitionären mehren sich.
Sicher, es habe in den ersten Wochen des Jahres „kleinere Auseinandersetzungen“ gegeben, wiegelt Landeschef Stefan Liebich ab, „aber jetzt haben wir zu einem Politikstil zurückgefunden, in dem wir so etwas intern vernünftig regeln können – und nicht öffentlich“. Die letzte kleine Auseinandersetzung, die Diskussion um Studiengebühren, gipfelte in dem Brandbrief des PDS-Wissenschaftssenators Thomas Flierl an den Regierenden Bürgermeister, in dem er seinem Kollegen Sarrazin Kampagnen vorwarf und eklatant gegen Verabredungen zu verstoßen. Gegenseitiges Verpetzen beim Chef, Angiften per Tagespresse, wenn so – um noch einmal bei Liebich zu bleiben – „vernünftig regeln“ funktioniert, könnten die großen Auseinandersetzungen spannend werden. Zum Beispiel der Doppelhaushalt 2004/2005. Die ersten Gespräche laufen, und dem Abgeordneten Brauer dräut schon jetzt, dass „viele meiner Kollegen noch gar nicht realisieren, was da auf uns zukommt“.
Doch zum Bruch wird es nicht kommen. Der PDS liegt zu viel an der Macht in der Hauptstadt und sie weiß, dass sie austauschbar ist. „Wir halten auch an Punkten still, wo wir eigentlich draufhauen müssten“, sagt Benjamin Hoff, wissenschaftspolitischer Sprecher der Fraktion. Nicht nur deshalb macht sich beim kleinen Partner Opferstimmung breit. PDSler murren auf Parlamentsfluren über „Profilierungspirouetten“ der SPD, über den „Machtpoker, mit dem plötzlich Sachfragen ausgetragen werden“.
Uni-Experte Hoff kann sich angesichts der lauten Überlegung von SPD-Strategen über Studiengebühren richtig in Rage reden. Eine „Täglich grüßt das Murmeltier“-Debatte sei das, schlicht übernommen aus anderen Ländern. Gebühren für Langzeitstudenten motivierten die Unis, ebendiese zu halten. Und Gebühren fürs Erststudium könne auch die Landes-SPD nicht durchsetzen. Vom Koalitionsvertrag mal ganz zu schweigen.
Besonders im Visier der Kritiker steht SPD-Fraktionschef Michael Müller. „Der verfährt nach dem ‚Wie du mir, so ich dir‘-Prinzip“, konstatiert ein PDS-Abgeordneter. Müller denke nach dem Motto: „Die PDS hat sich so oft durchgesetzt, jetzt müssen wir sie knechten.“
Der sozialdemokratische Kurs birgt noch mehr Konfliktstoff: Auch der von der SPD-Spitze initiierte Leitantrag lässt manche Sozialisten am Bündnispartner zweifeln. Zwar ist das Papier, das in abgeschwächter Form auf dem Parteitag Mitte des Monats behandelt werden wird, nur von symbolischer Natur: Doch Floskeln wie „Sozialsysteme so nicht zukunftsfähig“ oder „staatlicher Schutz hat sich zu Bevormundung entwickelt“ im Erstentwurf sorgen „für eine wenig glückliche Atmosphäre in der Koalition“, findet Uni-Experte Hoff. „Neoliberale Kalauer“ nennt so etwas der PDS-Abgeordnete Brauer.
Die PDS ist eben doch das Maultier unter den Parteien – geduldig und folgsam. Beim letzten Landesparteitag konnte Stefan Liebich, Fraktions-, Parteichef und Pragmatiker, rund 80 Prozent der Delegierten hinter seinem Leitantrag zur Fortführung des SPD-PDS-Bündnisses versammeln. Die Sozialisten würden – nach Lenin – nicht nur eine Bahnsteigkarte kaufen, um eine Revolution im Bahnhof anzuzetteln. Sie kriegten nicht mal die Tür auf. Nicht nur, dass die Anhänger des Reformflügels – neben Liebich auch die Senatoren Wolf und Knake-Werner, Uni-Fachmann Hoff oder Finanzexperte Wechselberg – an allen wichtigen Schaltstellen sitzen. Die Rentner, die in den Basisgruppen eifrig mitschreiben, dulden „auch wegen der früheren Staatsnähe“ (Klaus-Jürgen Dahler) viel. Besonders, wenn Führung so sympathisch-frisch daher kommt wie Stefan Liebich, an dessen Doppelamt und Machtfülle sich alle gewöhnt haben. Dahler lobt die Basisarbeit des Vorstandes: „Sie reden vorher viel mit den Leuten, auf dem Landesparteitag wird es dann nur noch durchgewunken. Aber die schwierigen Dinge klären sie woanders.“ Sein Pankower Kollege van der Meer meint: „Der Aufruhr ist nach innen gekehrt.“
Er zeigt sich in den Umfragen. Die Meinungsforscher von Emnid haben die Hauptstadt-PDS schon bei 9 Prozent gesehen, mit fallender Tendenz. Der Abgeordnete Brauer, als Verfechter des alten, traditionellen Kurses Anhänger einer Fraktionsminderheit, schießt Spitzen in Richtung Liebich ab: Zwar hätten auf dem Parteitag 80 Prozent für die Koalition gestimmt, in harten Details wie etwa der Lehrmittelfreiheit seien nur noch 14 Prozent dafür. Seine Prognose: „Wenn hier so weitergewurstelt wird, dann werden wir 2006 mit den fünf Prozent ringen.“
Das Führungschaos in der Bundespartei ist wohl die größte Gefahr für die Hauptstadt-PDS. Was, wenn sich auf dem immer wahrscheinlicher werdenden Sonderparteitag wieder Traditionalisten gegen Reformer durchsetzen und Fundamentalopposition fordern, eine Art Gera II also? Dann wird es schwer für die Berliner, auch wenn Liebich beteuert: „Ich sehe diese Gefahr nicht. Die Leute aus unserer Partei, die wirklich Politik gestalten wollen, werden breite Unterstützung finden.“ Doch den Sozialisten drohen durch die Selbstzerstückelung des Noch-Vorstandes um Chefin Gabi Zimmer alle Bundesthemen abhanden zu kommen. Die seit langem zerstrittene Führung konnte wenn überhaupt nur mit Antikriegsparolen punkten, und selbst hier blieb vor allem ein Bild im Kopf: Zimmer hockte sich mit starrem Blick vor die US-Botschaft, den Polizisten war das ziemlich egal, irgendwann ist sie dann wohl gegangen.
Die Partei vermisst schmerzlich die Bundestagsfraktion samt Apparat. Die Niederlage bei der letzten Bundestagswahl bedeutet praktisch vor allem 200 Fraktionsmitarbeiter weniger, die früher auch der Partei zuarbeiteten. Aber der wichtigste Grund für die Stille im PDS-Landesverband angesichts der Sozialdebatten ist einfach: Sie hat schlicht keine Idee, mit der sie die immer größer aufklaffende Lücke links der SPD besetzen könnte. „Wir sind durch den Alltag so eingebunden, dass keine Zeit blieb, eine Agenda 2030 für Berlin auszudenken“, sagt Hochschulexperte Hoff.
Es findet sich einfach weit und breit keine Vision, nirgends. „Es ist wenig sinnvoll, mit einem Gegenentwurf zur Schröder-Agenda auf Landesebene Propaganda zu machen“, sagt Liebich und setzt wie immer auf den praktischen Weg: Warten, bis die Agenda 2010 durch den Bundestag ist, dann über die Landesregierung im Bundesrat Druck machen. Das mag zwar erfolgversprechender sein, doch nur wenige werden es bemerken. Wem das nutzt? Allen, nur nicht der Berliner PDS.