: Geständnisse am Küchentisch
Die Polizei darf Gespräche im „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ nur mithören, wenn sie annehmen muss, dass über Kriminelles gesprochen wird
AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH
Diese Entscheidung ist ein Chamäleon. Das Karlsruher Urteil zum großen Lauschangriff kann sowohl Bürgerrechtlern gefallen als auch Sicherheitskreise zufrieden stellen. Die Privatsphäre wird gestärkt, aber nicht für tabu erklärt. Lauschangriffe werden teurer, aber niemand kann sich in den eigenen vier Wänden völlig sicher fühlen.
Der Grundgedanke stärkt aber auf jeden Fall die Privatsphäre der Bürger. Dem Einzelnen soll das „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“, gerade in seinen privaten Wohnräumen gesichert sein. „Vertrauliche Kommunikation benötigt einen räumlichen Schutz, auf den die Bürger vertrauen können“, so der Erste Senat des Verfassungsgerichts. Deshalb soll es keine Eingriffe in den „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ geben. Auch das Ziel einer effizienten Strafverfolgung könne solche Einschränkungen der Menschenwürde nicht rechtfertigen, betonte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier.
Dann heißt es aber auch: „Gespräche über begangene Straftaten gehören nicht zum absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung.“ Der Bürger ist also absolut geschützt – es sei denn, er spricht über kriminelle Dinge. Entscheidend ist nun, wie beide Ansatzpunkte zum Ausgleich gebracht werden. Und Karlsruhe hat hier klare Vorgaben gemacht. Für Gespräche in der Privatwohnung, die mit engsten Familienangehörigen geführt werden, gilt eine Vermutung, dass nicht über Straftaten gesprochen wird. Dasselbe gilt für Gespräche mit engsten Vertrauten, etwa dem nichtehelichen Lebenspartner. Hier darf die Polizei nur mithören, wenn sie konkrete Anhaltspunkte hat, dass ein Verdächtiger gern bei seiner Frau oder Freundin mit kriminellen Taten prahlt. Auch wenn die Angehörigen oder Vertrauten als Mittäter oder Helfer gelten, können sie belauscht werden. Nicht möglich ist aber ein Abhören ins Blaue hinein, in der vagen Hoffnung, am Küchentisch werde schon über das eine oder andere geplaudert.
Schwierig wird es, wenn es der Polizei eigentlich um Gangstertreffen in der Privatwohnung geht. Hier hat das Verfassungsgericht im Prinzip zwar keine Bedenken gegen das Mithören. Das Tonband muss aber künftig abgeschaltet werden, wenn die Geschäftspartner gegangen sind und nur noch harmlose Familiengespräche geführt werden.
Diese Vorgabe macht Lauschangriffe künftig noch aufwändiger. Es ist nicht mehr möglich, ein Tonband mitlaufen zu lassen und später die polizeilich interessanten Stellen herauszusuchen. Vielmehr muss stets ein Beamter neben dem Tonband sitzen, um rechtzeitig auszuschalten. Vermutlich müssen weitere Beamte den Wohnungseingang observieren, um sicherzustellen, dass die Zielpersonen wirklich gegangen sind. Und wenn die Gespräche auf Albanisch oder Marokkanisch geführt werden, müsste auch der Dolmetscher neben der Bandmaschine sitzen.
Dass dies klappt, glauben die Richter wohl selbst nicht. Deshalb ihre weitere Vorgabe: Aufgenommene Privatgespräche müssen wieder gelöscht werden und dürfen von der Polizei nicht einmal als Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen verwendet werden. Welche Aussagen aus einem Lauschangriff vor Gericht verwertet werden dürfen, soll künftig schon vor dem Prozess geklärt werden. Karlsruhe fordert hier die zwingende Prüfung durch eine unabhängige Stelle, etwa das Gericht, das die Abhöraktion genehmigt hat. Das spätere Prozessgericht soll jedenfalls nicht Dinge wissen, die selbst dem Angeklagten nicht bekannt sind.
Relativ wenig praktische Bedeutung hat eine sehr weitgehend klingende Vorgabe der Richter. Lauschangriffe sollen nur noch gegen schwere Kriminalität eingesetzt werden. Gemeint sind Straftaten, die mit einer Höchststrafe von mehr als fünf Jahren bedroht werden. Bei Bestechung, Spionage und rund 25 anderen Delikten ist künftig also kein Lauschangriff mehr möglich. Allerdings wurde er in solchen Fällen auch bisher so gut wie nicht eingesetzt.
Leicht verbessern will Karlsruhe die Benachrichtigung von Betroffenen. Sie soll nur noch dann unterbleiben, wenn Leib und Leben anderer Menschen oder die Untersuchung selbst gefährdet würden. Sonstige Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder die Einsatzmöglichkeiten von Polizeibeamten sollen nicht genügen. Außerdem müssen künftig auch Personen, die eher zufällig in den Lauschangriff geraten sind, benachrichtigt werden. Nach Zahlen aus den USA sind im Schnitt 26 Unbeteiligte von jeder Wanzenaktion mitbetroffen. Die Benachrichtigung der Zufallsgäste ist allerdings keine strenge Pflicht, weil es letztlich auch eine Art Pranger sein könnte, wenn die Polizei alle Mitabgehörten von einem laufenden Ermittlungsverfahren informieren müsste.
Umstritten war im Gericht die Verfassungsänderung von 1998, die die Einführung des großen Lauschangriffs erst ermöglichte. Sechs Richter hielten sie für zulässig, indem sie die Neuformulierung von Artikel 13 Grundgesetz (Schutz der Wohnung) besonders Menschenwürde-freundlich auslegten. Die beiden linken Richterinnen Renate Jaeger und Christine Hohmann-Dennhardt hielten schon die Grundgesetzänderung für einen Verstoß gegen die unabänderliche Garantie der Menschenwürde.