: Amerikaner waren zu still
Das Hamburger Gericht hat nach der Sperrung eines zentralen Zeugen durch die USA die übrigen Beweise überbewertet
AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH
Das weltweit erste Urteil im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. 9. 2001 hat keinen Bestand. Gestern hob der Bundesgerichtshof die Verurteilung des Marokkaners Mounir al-Motassadeq wieder auf. Es habe Fehler bei der „Beweiswürdigung“ gegeben. Der in Hamburg lebende Student erhält nun einen neuen Prozess vor dem Hamburger Oberlandesgericht (OLG).
Vor einem Jahr hatte das OLG den Marokkaner zu 15 Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in 3.066 Fällen sowie Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Al-Motassadeq soll durch kleinere Dienste wie Geldüberweisungen die Abwesenheit von anderen Gruppenmitgliedern verschleiert haben. Es war ein Indizienprozess. Der Student war zwar mit den Attentätern um Mohammed Atta befreundet, er behauptete aber, dass er von deren Plänen nichts gewusst habe.
Auf Revision der Verteidigung hob der BGH dieses Urteil nun auf. Das Recht Motassadeqs auf ein faires Verfahren sei verletzt worden, sagte gestern der vorsitzende Richter Klaus Tolksdorf. „Die Justiz darf gegenüber der Bedrohung des Terrorismus zwar nicht zurückweichen“, so Tolksdorf in seiner rund einstündigen Urteilsbegründung, „die rechtsstaatlichen Regeln müssen aber eingehalten werden, damit nach Möglichkeit keine Unschuldigen verurteilt werden.“
Konkret ging es um den Umgang mit dem Zeugen Ramsi Binalshibh. Der von den USA festgehaltene Cheflogistiker der Hamburger Terrorzelle hätte nach Auffassung der Verteidiger Gerhard Strate und Josef Gräßle-Münscher aussagen können, dass Motassadeq nichts von den Plänen wusste. Doch die USA ließen eine Vernehmung Binalshibhs nicht zu und sorgten auch dafür, dass die deutschen Behörden die Einsicht in die ihnen vorliegenden Vernehmungsprotokolle verweigerten.
Nach BGH-Ansicht hätte das Hamburger Gericht mangels Erfolgsaussicht zwar keinen Druck auf die USA ausüben müssen, um diese zu einem Umdenken zu bewegen. Allerdings hätten die übrigen Beweise „besonders vorsichtig“ bewertet werden müssen, so Richter Tolksdorf. Indem sich das OLG gar nicht mit dem Inhalt einer – eventuell entlastenden – Aussage Binalshibhs auseinander setzte, habe es die Rechte des Angeklagten verletzt.
Die Motive der USA, die Kooperation zu verweigern, wollte Tolksdorf nicht bewerten („Darüber könnten wir nur spekulieren“). Allerdings sei das amerikanische Verhalten ähnlich schwerwiegend wie die Sperrung von Zeugen und Unterlagen durch deutsche Behörden. Die USA hätten ein „erhebliches eigenes Interesse am Ausgang des Strafverfahrens“, weil es um Anschläge gegen vornehmlich amerikanische Bürger gehe. Deshalb müsse von vornherein die Gefahr ausgeschlossen werden, dass die US-Exekutive einen deutschen Strafprozess durch „selektive Gewährung von Rechtshilfe“ in ihrem Sinne steuert und manipuliert.
Tolksdorf räumte ein, dass der BGH hier Neuland betrat. Entsprechend gelassen zeigte sich gestern Bundesanwalt Rolf Hannig: „Mit dieser Rechtsprechung konnten weder wir noch das Hamburger Gericht rechnen.“
Freigesprochen ist Motassadeq damit freilich nicht. Der Prozess wird nun vielmehr vor einem anderen Senat des Hamburger OLG völlig neu aufgerollt. Dabei könnte es erneut zu einer Verurteilung kommen, falls das OLG die Beweise gegen Motassadeq auch im Lichte einer „besonders vorsichtigen Beweiswürdigung“ für schwerwiegend genug hält, Immerhin soll der Algerier schon im Jahr 1999 einen der späteren Todesflieger mit den Worten vorgestellt haben: „Das ist unser Pilot.“ Auch neu bekannt werdende Aussagen von Binalshibh könnten dann berücksichtigt werden. Verteidiger Strate will beantragen, dass sein Mandant bis zu Prozessbeginn aus der Haft entlassen wird.
Demnächst werden sich Richter Tolksdorf und sein Senat auch mit dem zweiten Hamburger Terrorverfahren beschäftigen müssen. Vor einem Monat war Abdelghani Mzoudi, ebenfalls Marokkaner und ebenfalls vermeintlicher Unterstützer der Atta-Gruppe, in Hamburg aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Kurz zuvor hatte das Bundeskriminalamt dem Gericht mitgeteilt, dass eine nicht namentlich genannte Auskunftsperson (wohl Binalshibh) den Angeklagten vom Vorwurf der Mitwisserschaft entlastet habe.
Gegen dieses Urteil hatte Generalbundesanwalt Kay Nehm sofort Revision eingelegt. Doch Tolksdorf machte ihm gestern wenig Hoffnung. Es sei doch „erstaunlich“, so Tolksdorf in einer Nebenbemerkung, dass Mzoudi im Urteil gegen Motassadeq nicht einmal erwähnt werde. „Dabei sollen sie doch Mitglieder der gleichen terroristischen Vereinigung gewesen sein.“ Der Freispruch für Mzoudi dürfte angesichts der dort noch dünneren Beweislage wohl auch in Karlsruhe bestehen bleiben.