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Archiv-Artikel

Rückkehr unter vorgehaltener Knarre

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen legt einen Bericht über die Situation tschetschenischer Flüchtlinge in Inguschetien vor. Von freiwilliger Rückkehr, wie es Moskau gerne hätte und behauptet, kann keine Rede sein

Für den Bau eines Toilettenhäuschens ist ein schriftlicher Antrag einzureichen

MOSKAU taz ■ Inguschetien schiebt auch weiter tschetschenische Flüchtlinge gnadenlos in ihre Heimat hat. Deren Situation hat jetzt die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (ÄoG) in einem Bericht dokumentiert. Die Behörden in Inguschetien hätten begriffen, dass die Verladung von Flüchtlingen mit vorgehaltenem Gewehr auf Lastwagen und deren Abtransport ins tschetschenische Kriegsgebiet nicht ganz freiwillig genannt werden könne, meint eine Mitarbeiterin von ÄoG in Inguschetien dazu. Daher setzt die Verwaltung der tschetschenischen Nachbarrepublik nun auf verfeinerte Methoden, sich der ungeliebten Kriegsopfer zu entledigen.

Vor kurzem lehnte der stellvertretende inguschetische Premierminister, Galani Machhauri, die Inbetriebnahme eines vom humanitären Hilfsprogramm der EU geförderten Flüchtlingsdorfes ab. Begründung: schlecht verlegte Elektroleitungen und Feuergefahr machten die Häuser unbewohnbar. Seit Ende Januar stehen Unterkünfte, in denen 800 Flüchtlinge Platz fänden, am Rande des Lagers „Rasswet“ leer. Die Häuser haben feuersichere Steinwände, Betonfußböden und eine sichere Feuerstelle. All das, was den ausgedienten Zelten fehlt.

8.000 Dollar kostete ein Haus, das für 50 Bewohner ausgelegt ist. Die Lagerinsassen stehen indes vor verschlossenen Türen, während die Behörden an neuen Schikanen tüfteln. So ist dem Bericht von ÄoG zu entnehmen, dass für den Bau eines Toilettenhäuschens – aus Stein statt aus Holz – beim Innenministerium ein schriftlicher Antrag eingereicht werden müsse. Ende Januar erklärten dieselben Behörden, dass die bereitgestellten Unterkünfte illegal seien, obwohl der Präsident Inguschetiens das Programm genehmigt hatte.

Schon seit Herbst vergangenen Jahres beabsichtigt Moskau, die Flüchtlingslager in Inguschetien aufzulösen und Tschetschenen ohne Aufenthaltserlaubnis, die auf eigene Kosten eine Wohnung gemietet haben, ins Kriegsgebiet zurückzuschicken. Erst nach Protesten der internationalen Gemeinschaft lockerte der Kreml im Winter die „Repatriierungsmaßnahmen“. Dennoch soll Inguschetien bis zu den tschetschenischen Präsidentschaftswahlen Ende des Jahres flüchtlingsfrei sein.

Jeder Beteiligte hat dafür eigene Motive. Dem Kreml geht es vornehmlich darum, sich der unliebsamen internationalen Organisationen zu entledigen, die das Kriegsgeschehen aus der Nähe beobachten. Ihre Erfahrungen widersprechen der offiziellen Friedenspropaganda aus dem Kreml. Die moskautreuen Vasallen um den tschetschenischen Verwaltungschef Achmed Kadyrow haben es auf die finanziellen Mittel abgesehen, die Moskau für die Rücksiedlung der Flüchtlinge zur Verfügung stellt.

Außerdem hieß es in Moskau, man wolle den Opfern, die Hab und Gut verloren haben, Entschädigungen zwischen 2.000 und 15.000 US-Dollar gewähren. Die Kompensation wird laut Bericht der ÄoG als Druckmittel eingesetzt, um die Menschen zur Rückkehr zu zwingen. Denn nur wer in Tschetschenien wohnt, ist anspruchsberechtigt.

136.000 Flüchtlinge seien bereits freiwillig heimgekehrt, meinte Anfang des Jahres der von Moskau eingesetzte Präsident Inguschetiens, Murat Siasikow. Eine Umfrage unter 16.500 Flüchtlingen der ÄoG im ersten Quartal 2003 ergibt ein völlig anderes Bild. Demnach lehnen 98 Prozent eine freiwillige Rückkehr ins Kriegsgebiet ab, 93 Prozent davon aus Sicherheitsgründen. 90 Prozent wissen nicht, wo sie hingehen sollen, wenn Inguschetien die Drohung wahr machen sollte und die Lager schließt.

Die Angst vor willkürlichen Säuberungen zügelloser Sicherheitsorgane – der Satschistki – hat sich keineswegs gelegt. Dafür gibt es auch keinen triftigen Grund. Nach Angaben des Sekretärs des Sicherheitsrates der moskautreuen Regierung, Rudnik Dudajew, sind seit dem Referendum Ende März, mit dem Moskau der Region Stabilität bringen wollte, 79 Personen von Militärs entführt worden und spurlos verschwunden. Seit Anfang des Jahres gelten über 200 Tschetschenen als vermisst.

Von einem Opfer berichtete die Nesawissimaja Gaseta. Taus Kaipowa war mit ihrem Sohn von Inguschetien nach Tschetschenien gefahren, um ihren Mann zu bestatten. In der ersten Nacht wurden sie von Militärs überfallen, die den 17-jährigen Sohn unter dem Vorwand, er sei Terrorist, vor den Augen der Mutter erschossen. Ein bedauerlicher Einzelfall? Keineswegs.

KLAUS-HELGE DONATH