: Leitfiguren und Leidtragende
Warum Hamburg so gewählt hat, wie es wählte – oder ob alles ganz anders hätte kommen können: Im „Grünen Salon“ des Bildungswerkes umdenken/Heinrich-Böll-Stiftung diskutierten Hamburger JournalistInnen im Thalia-Theater die Folgen der Bürgerschaftswahl. Eine Dokumentation
Tina Fritsche: Herr Barth, Sie haben eine Wahlwette verloren?
Karl-Günther Barth: Ja, ich sah Schill drin und die GAL bei 16 Prozent. Aus meiner Sicht hat Frau Goetsch den engagiertesten Wahlkampf geführt.
Fritsche: Die Mehrheit war zwar unzufrieden mit der Arbeit des Senats, wollte aber dennoch Ole von Beust als Bürgermeister. Wie erklären Sie sich das?
Sven-Michael Veit: Ole von Beust hat in einer Art tödlicher Umarmung seine Koalitionspartner ausgesaugt und es dann geschafft, Wähler, die vorher liberal oder Schill gewählt haben, nicht an die CDU zu binden, sondern an seine Person. Wie er das gemacht hat, weiß er, glaube ich, selber nicht.
Susanne Mayer-Peters: Es ist wirklich ein Phänomen. Die SPD konnte aus dem Schwächeln der Regierung kein Kapital schlagen. Viele Themen, die die SPD hochgezogen hat, haben nicht mehr so richtig gezündet.
Veit: Die SPD hatte nicht wirklich eine Chance. Ihre Schwäche ist strukturell; dazu kommt der Gegenwind aus Berlin. Der Wahlsieg ist kein Sieg der CDU, sondern der einer einzelnen Figur. Von Beust thronte in sehr präsidialer Art über allem. Mit ist es ein Rätsel, wie von Beust es geschafft hat, dass die Wähler und Wählerinnen ihn für keinen seiner Fehler verantwortlich gemacht haben.
Barth: Die Themen LBK-Verkauf oder Kita-Chaos haben die Leute weniger interessiert als uns Journalisten.
Veit: Aber es gab 178.000 Unterschriften für das Kita-Volksbegehren und über 100.000 gegen den LBK-Verkauf. Das waren keine Medienthemen, das brennt den Leuten unter den Nägeln.
Barth: Ach, eine Unterschrift am Stand passiert schnell. Die Kindertagesbetreuung ist schon lange ein Problem und hat mit dem Gutscheinsystem einfach nur einen neuen Namen bekommen.
Fritsche: Wollte die CDU mit ihrer Taktik, die Bürgerschaftswahl zur Bürgermeisterwahl zu stilisieren, von der inhaltlichen Schwäche ihres Kandidaten ablenken?
Mayer-Peters: Als Ole von Beust Ronald Schill gefeuert hatte, guckte die ganze Republik nach Hamburg, und von Beust war der Handelnde. Diesen Aspekt hat die CDU im Wahlkampf in den Mittelpunkt gestellt. Sicher hat das von den Schwächen seiner Regierung abgelenkt.
Barth: Der SPD-Kandidat spielt auch eine Rolle. Die SPD hat ihren Wahlkampf sehr amerikanisiert auf Herrn Mirow zugeschnitten, obwohl er ein Mann des alten Senats ist und sich dann gewundert, dass es am Ende mit ihm nicht geklappt hat.
Thomas Ebermann: Der Wahlkampf war nicht inhaltsarm. Inhaltlich hat Schill gewonnen. Es gab keine Partei, die seinem faschistoiden Potenzial in der Sache widersprochen hätte. Mirow plakatierte ‚Mehr Polizei auf die Straße‘, und von Beust steht ganz selbstverständlich für Brechmitteleinsatz und Arbeitsdienst. Er ist der erste Bürgermeister, der sich mit dem latenten Rechtsradikalismus eingelassen hat. Trotzdem kommt er groß raus, weil er verspricht, all' das zu tun, was Schill eingebracht hat, aber ohne Hamburg im Bundestag zu blamieren.
Barth: Ich halte es für gefährlich, rechtspopulistisch mit faschistoid gleichzusetzen. Dann wäre das, was Herr Neumann von der SPD macht, auch latent faschistoid. Damit grenzen Sie die SPD aus.
Mayer-Peters: Die SPD hat den Schwenk ja noch unter Rot-Grün, mit der Ablösung Wrocklages, vollzogen. Olaf Scholz hat ohne innerparteiliche Diskussion die Innenpolitik der SPD um 180 Grad gedreht. Der darauf folgende Senat hat die Linie schlicht fortgesetzt.
Veit: Die meisten Schillwähler 2001 kamen von der SPD oder hatten zuvor tendenziell rechtsradikal gewählt. Ole von Beust ist es nun gelungen, dieses Potenzial wieder in das bürgerliche Spektrum zurückzuholen. Aber ein Drittel der Wahlberechtigten geht nicht mehr wählen, weil sie nichts mehr von den Politikern erwarten. Das zu erklären und aufzulösen, ist die Aufgabe der Zukunft für eine verantwortungsvolle Politik.
Ebermann: Ich bin Nichtwähler. Und ich bin ganz und gar dagegen, Politikverdrossenheit zu idealisieren. In diesem Begriff spiegelt sich oft eine Führersehnsucht. Solange es noch einen Begriff davon gibt, dass die Gesellschaft in Interessensgruppen zerfällt, die in parteipolitischen Konstellationen ihren Ausdruck finden, dient das der Zivilisierung der Gesellschaft. An schwacher Wahlbeteiligung kann ich mich überhaupt nicht freuen.
Mayer-Peters: Beide, SPD und CDU, haben Schill groß werden lassen. Die SPD hat ihre Stammwähler vernachlässigt. Und die CDU hat als müde, sehr unattraktive Oppositionspartei 44 Jahre lang nichts bewirkt.
Fritsche: Der Politikwissenschaftler Joachim Raschke sagte sinngemäß, das Wahlergebnis könne bedeuten, dass Menschen in Hamburg eine Sehnsucht nach einer Leitfigur hätten: Damals Schill, heute von Beust?
Barth: Ich weigere mich, Schill als Leitfigur zu sehen. Was den rot-grünen Senat damals weggefegt hat, war, dass er Liberalität mit Laschheit verwechselt hat.
Ebermann: Schill hat auch diesmal gewonnen. Heute sind Auffassungen in der Hamburger Politik Bestandteil des demokratischen Konsenses, die nahezu alle Rathausparteien davor als undenkbar bezeichnet hätten, z. B. Brechmitteleinsatz, Arbeitsdienst für Sozialhilfeempfänger und geschlossene Heime. Ole von Beust gilt als liberal und hanseatisch. Wie kann es sein, dass einer, der auf allen Feldern der Politik dasselbe macht wie Schill und die Wahnvorstellungen des autoritären Charakters bedient, als liberal gilt? Das muss ein Verlust von Denken und Reflexion in der Gesellschaft sein.
Barth: Nein. Die Tabuisierung bestimmter Politikfelder, beispielsweise in der Drogenpolitik, hat zum Phänomen Schill geführt.
Mayer-Peters: Ich habe im Wahlkampf vor zwei Jahren mit sehr vielen Menschen gesprochen und kann mich gut an den unglaublichen Zorn erinnern, dass es bei zum Beispiel Falschparken ein Ticket gab, die Dealer am Hauptbahnhof aber schalten und walten konnten.
Barth: Und ich habe im Schanzenviertel gewohnt. Wenn ich auf den kleinen Park geschaut habe, sah ich, wie dort massiv gedealt wurde. Wenn ich raus kam, hatte ich ein Ticket wegen Falschparkens.
Fritsche: Aber haben nicht die Medien, vor allem auch das Hamburger Abendblatt, zu eben dieser Stimmung beigetragen? In diesem Wahlkampf war Innere Sicherheit plötzlich überhaupt kein Thema mehr.
Barth: Aus journalistischer Sicht gab es keine Notwendigkeit dazu. Damals haben wir diskutiert, wie wir über Schill berichten sollen. Man schreibt Schill nicht hoch, indem man über die Zustände in dieser Stadt schreibt. Wir sind nicht zuständig für die Volkspädagogik oder die Verhinderung des Schlimmen. Unsere Aufgabe ist es, zu beschreiben, was passiert.
Mayer-Peters: Ich habe Wahlveranstaltungen von Schill besucht, da waren bis zu 1.400 Menschen, bei der GAL waren 40, bei der SPD 30 und bei der CDU noch weniger. Aus journalistischer Sicht war es ein Phänomen, über das wir berichten mussten. Im Nachhinein hätten wir es sicher reflektierter machen können.
Ebermann: Was geht in einem Menschen vor, der sich freut, wenn ein Schwarzfahrer zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wird? Vielleicht das: Wenn ich mir schon alles antue, um in dieser Welt zurechtzukommen, dann ertrage ich nicht, wenn real oder in meiner Phantasie Menschen Wege finden, sich dieser Tortur zu entziehen. Für diesen Mechanismus gibt es das neue Wort vom 'Subjektiven Sicherheitsempfinden'. Es öffnet dem Wahnhaften Tor und Tür. Das ist ein Schlüsselmoment des Aufstiegs von Schill.
Barth: Subjektives Sicherheitsempfinden ist keine Erfindung verklemmter Spießer!
Veit: Schill hat das nicht erfunden, Schill hat es genutzt. Jetzt ist Schill weg, die Befindlichkeiten bleiben. Damit muss sich die CDU, aber auch die SPD auseinander setzen. Das Problem der CDU wird sein, dass sie eine heterogene Wählermenge an sich gezogen hat, die zu befriedigen schwer, wenn nicht gar unmöglich werden wird. Die SPD wird sich, wenn überhaupt, nach rechts erneuern. Wenn diese Partei wieder die 40-Prozent-Marke sehen will, muss sie sich dorthin bewegen, wo die Wähler sind, und das ist nach rechts. Das verheißt nichts Gutes.
Fritsche: Michael Neumann gilt als Hardliner in der SPD und bewirbt sich nun um den Fraktionsvorsitz.
Veit: Seine Wahl hätte rein programmatische Bedeutung: In welche Richtung will diese Partei und welche Figur soll diese Politik verkörpern.
Barth: Neumanns Bewerbung beweist nur, wie schlecht die SPD personell in Hamburg aufgestellt ist. Nach der Wahlniederlage 2001 hat sich die SPD weder personell noch ideell erneuert.
Veit: Einspruch. Ein Viertel der Fraktion ist neu, und sie ist keine Abnickerfraktion mehr. Es wird eine selbstbewusstere SPD- Fraktion geben, aber über die Richtung mache ich mir keine Illusionen.
Ebermann: Die SPD kann nicht in die Offensive kommen, solange sie in Berlin regiert und schuld ist an realen Verarmungstendenzen. Bei der nächsten Hamburgwahl wird die SPD in Berlin in der Opposition sein, allerlei soziales Unrecht beklagen und darüber ihren Aufschwung organisieren. Und dann fängt, wie Marx sagt, die ganze Scheiße von vorne an.
Fritsche: Wie sieht es denn mit der Aufstellung der CDU aus?
Veit: Es wird viel gemunkelt. Wir haben die schlechteste aller Möglichkeiten gerade hinter uns, jetzt kommt die zweitschlechteste. Eine Zusammenlegung von Schul- und Wissenschaftsbehörde ist unwahrscheinlich. Bildungspolitik unter einem parteilosen Supersenator Dräger wäre der schulpolitische Offenbarungseid der CDU.
Mayer-Peters: Die Kultur wird wohl eigenständig bleiben. Peiner, in meinen Augen ein exzellenter Mann, wird ebenso bleiben wie Uldall, Kusch, Schnieber-Jastram. Alle anderen Namen werden als geheime Kommandosache der CDU gehandelt.
Veit: Um die Senatsstruktur zu verkleinern, muss man entweder die Kulturbehörde der Wissenschaftsbehörde zuschlagen oder aber die Behörde für Umwelt und Gesundheit auflösen. Vor allem muss Ole von Beust eine kompetente Frau in seiner Partei finden. Eine einzige Frau im Senat – das wagt ja nicht mal Bayern.
Barth: Ole von Beust wird nicht den Fehler machen, die Kulturbehörde aufzulösen. Zu der Vision der wachsenden Stadt gehört eine funktionierende Kultur. Da reicht nicht eine Staatsrätin in der Wissenschaftsbehörde.
Mayer-Peters: In der Sozialpolitik wird weiterhin die Maxime der Sozialsenatorin Schnieber-Jastram gelten: 'Wir wollen die Menschen unterstützen, die sich nicht selber helfen können. Alle anderen müssen sich selbst helfen.' Man mag das human oder inhuman nennen, aber es wird in diese Richtung gehen.
Ebermann: Bei dem Verlust an humanitärer Orientierung spielen parteipolitische Konstellationen keine Rolle mehr. Wenn wir das aus der Sicht von Leuten betrachten, die sozialpolitisch engagiert sind, wie im Fixstern oder im Frauenhaus, aus der Sicht alter Leute, die in Heimen leben oder aus der Sicht eines Menschen, der die Abschiebung fürchtet – dann ist es irrelevant, ob sie unter einer CDU-Regierung, einer Großen Koalition oder wie in Berlin unter einer SPD-PDS geführten Regierung leben. Sie sind Leidtragende von Restriktionen.
Die Frage ist, ob es in einer Stadt wie Hamburg einen politischen und sozialen Widerstand geben wird, der sich befreit von der parteipolitischen Präferenz? Wenn ja, wäre ich gern als Alterspräsident dabei.
Mayer-Peters: Der wird aber sicher von den Grünen gestellt.
Barth: Entscheidend ist, wie sich bestimmte Milieus organisieren. Gelingt es einzelnen Interessengruppen, eine Stimme oder eine Partei für sich zu finden? Eine solche Partei wird langfristig an politischem Einfluss gewinnen.
Mayer-Peters: Die GAL wird eine kraftvolle und witzige Opposition machen. Ich vermute, dass sie für weit mehr Zündstoff in der Opposition sorgen wird als die SPD.
Barth: Die Grünen haben die intelligenteren Leute und sind die spannendere Oppositionspartei.
Veit: Ja, aber viel spannender ist, dass die GAL wieder regieren will, aber keinen Partner hat – es sei denn, sie löst ihre emotionalen Bindungen und die ihrer Wählerschaft vom angeblich natürlichen Koalitionspartner SPD. Schwarz-Grün wird der strategische Weg der Grünen sein müssen, wenn sie wieder regieren wollen.
Barth: Ein Teil der Oppositionsstrategie könnten auch die Bezirke sein. Herr Schreiber im Bezirk Mitte war so was wie der heimliche Oppositionsführer der letzten zwei Jahre.
Veit: Unter der Überschrift Bezirksverwaltungsreform gibt es ja auch bereits Papiere, die darauf hinauslaufen, bestimmte Rechte der Bezirke und der Ortsausschüsse einzuschränken. Ich persönlich würde mich nicht wundern, wenn der CDU-Senat künftig mehr Macht an sich zieht.
Barth: Der Senat hat ja bereits das Recht, ein Thema immer dann, wenn Bezirke im Wege stehen, an sich zu ziehen. Evozieren wird immer beliebter.
Fritsche: Am 13. Juni, dem Tag der Europawahl, können die Hamburgerinnen und Hamburger über die Wahlrechtsreform entscheiden. Wird das Auswirkungen haben auf das Machtgefüge zwischen Senat, Bezirken, Wählerinnen und Wählern?
Mayer-Peters: Ich kann die Stimmung in der Bevölkerung nicht voraussehen. Ich bin aber überzeugt, dass die Wahlrechtsreform das Thema der kommenden Wochen sein wird.
Barth: Die Menschen haben in den ritualisierten Wahlen nicht mehr das Gefühl, etwas bewirken zu können. Sie werden sich künftig mehr organisieren und sich wehren, in Hamburg zum Beispiel durch Volksbegehren.
Ebermann: Ich bin gegen Volksentscheide. Ich habe zu viel Angst vor diesem Volk. Bearbeitung: Tina Fritsche