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Archiv-Artikel

Die Union - eine bessere FDP? Was würde Jesus dazu sagen?

Die innere Einstellung zu sozial Schwachen ist das Kriterium, durch das sich Christliche Demokraten von Liberalen unterscheiden müssen. Die Frage von Heiner Geißler nach dem ethischen Fundament der Politik der CDU könnte auch machtpolitisch entscheidend sein ■ Von Erich Röper

Sie schützt ihre Wählergruppen in den zwei oberen Dritteln der Gesellschaft und belastet die, die wenig habenDer CDU ist die Vision einer gerechten Gesellschaft christlich-sozialer Prägung abhanden gekommen

Schon einmal, nach 1969, schwappte eine Reformwelle durchs Land. Doch nicht nur Willy Brandt und die sozial-liberale Koalition führten die BRD aus der bleiernen Zeit der Adenauer-Jahre, vermehrten den gesellschaftlichen und sozialen Freiheitsraum. Mit der „neuen sozialen Frage“ war in Mainz CDU-Sozialminister Heiner Geißler Anwalt der Menschen ohne Lobby; der Lohn fürs Bemühen um Geringverdienende, Alleinerziehende, Arbeitslose, Rentner war 1976 mit 48,6% das zweitbeste CDU-Wahlergebnis. Auch die Wahlschlacht 1980 mit Franz Josef Strauß zerstörte das Fundament nicht. Dazu ziehen die Neoliberalen nun aus, um die Union rückwärts in die soziale Ungleichheit der vor-Bismarck-Zeit zu führen.

Kaum erträglich ist die CDU-Debatte um gesellschaftliche Reform. Nur die Spitze des Eisbergs ist, wenn schamlos der unselige Junge Unions- Vorsitzende Mißfelder gehbehinderte alte Menschen auf Krücken verwies. Es geht nicht darum, ob er neben der Sache liegt und solche Politik der älter werdenden Wählerschaft vermittelbar ist. Es geht nicht darum, wie der Generationenvertrag neu definiert wird, um zu sozialer Gerechtigkeit zulasten des Kapitals den Faktor Arbeit und damit die Arbeitnehmer zu entlasten. Die Konflikte sind zwischen Arm und Reich, nicht Alt und Jung.

Jenseits Mißfelders Volksverhetzung überlagert im CDU-Gesellschaftsbild Neoliberalismus das christlich-soziale Gedankengut. Sonst träte sie ein für eine gerechte Gesellschaft, die solidarisch die Schwachen schützt und fördert, die Starken fordert. Es ist gilt für Einkommen und Vermögen; auch wer seine Fähigkeiten nicht nutzt (so das Gleichnis von den fünf Talenten, Mt 25, 14-30), versündigt sich wie Manager-Raffkes mit obszönen Einkommen und Abfindungen; der Untreue-Prozess gegen die Mannesmann-„fat cats“ aber ist der CDU-Vorsitzenden „ein Schlag gegen den Wirtschaftsstandort Deutschland“. Doch warum sind nicht nach US-Vorbild Steuerflüchtlinge lebenslang steuerpflichtig und wird der Verzicht auf die Staatsangehörigkeit als Ausweg aus der Steuerpflicht verweigert? Und warum verläuft die CDU-Kritik der Bundeswehr-Reform parallel zur Rüstungsindustrie?

Deutlich ist die Distanz zu vieler sich religiös verstehender Menschen zur Union nicht erst seit dem Irak-Kriegs-Votum für Bush und gegen den Papst (Pflüger deckt gar die Ostereier-Sucherei der USA nach B- und C-Waffen dort). Wem zu Krieg und Frieden die Kirchen irrelevant Abitur in 12 Jahren sind, den halten die Gläubigen für irrelevant! Dem widerspricht nicht der jüngste Sozialstaats-Text der katholischen Bischofskonferenz, deren Staatsferne Kardinal Lehmanns Bemühen entsprach, beim 60. Geburtstag seinen Priestern das besondere Verhältnis zum damaligen Bundeskanzler Kohl zu demonstrieren.

Das Wertefundament der Gesellschaft hängt auch von ihren Politikern ab; es ist mehr als der Gottesbezug in der EU-Verfassung oder die Unions-Ablehnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Jenseits des doktrinären Bilds von Religion und Kirche mahnt es der Papst im Sendschreiben „Ecclesia in Europa“ an: Es dürfe „sich nicht in sich selbst zurückziehen“. Humanisierung „im Sinn einer neuen Kultur der Solidarität“ sei nötig für die Dritte Welt und Gesellschaft hier: „Der Markt verlangt, daß er von den sozialen Kräften und vom Staat in angemessener Weise kontrolliert werde, um die Befriedigung der Grundbedürfnisse der gesamten Gesellschaft zu gewährleisten.“ - CSU/CDU-Politik?

Welcher Gerechtigkeit dient Merz‘ fehlgerechneter drei-Stufen- Steuertarif, der die Arbeitnehmer-Vergünstigungen streichen, die der Selbständigen, Freiberufler, Unternehmer für Dienstreisen und Geschäftsessen, Firmenwagen und Geschenke, Bestechungsgelder in der Dritten Welt und Verlustabschreibungen aber erhalten will? Welche Gerechtigkeit ist gemeint, werden jederzeit Dienstleistungsbereitschaft über das bezahlte Arbeitsende hinaus und als Reformen verkleidete Gehaltseinbußen verlangt? Welches christliche Menschenbild ist gemeint, werden als neue Berufe Schuhputzer und Concierge genannt? Und ist die Wettbewerbsgesellschaft christlich (so das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, Mt 20, 1-16)?

Welche Gerechtigkeit ist gemeint, wird der Zahnersatz im Leistungskatalog der Krankenkasse gestrichen, derweil Abgeordnete die 100%-Versorgung der Beamten erhalten? Wie soll ein Patient des Arztes Leistung und Rechnung beeinflussen, die er mitbezahlen soll, zumal etwa Röntgen-Aufnahmen abzulehnen (hierzulande wird doppelt so oft geröntgt wie in den Niederlanden) als Therapieverweigerung gelten kann mit allen Haftungsfolgen? Ohne medizinische Begründung wurde Rot/Grün gegen Horst Seehofers Rat gezwungen, den Zahnersatz zu privatisieren. Doch bleiben individualistische Leistungen einer bestimmten Ärzte-Klientel für eine bestimmte Personengruppe: Für 40.000 Frauen jährlich 4 Versuche künstlicher Befruchtung zu je E 12.000; Erfolgsquote 30% mit hoher psychischer Belastung auch der Kinder („Ich war ein kleiner Frostie“ heißt das englische Buch für sie).

Die Union schwimmt auf der Welle mit Rot/Grün Unzufriedener. In der Tat ist die SPD im Clinch mit dem politisch wichtigsten Verbündeten, dem DGB. Schröder kämpft mit Sommer, Bsirske & Co., nimmt alle Risiken in Kauf. Und die Union? Klientelistisch schützt sie ihre Wählergruppen in den zwei oberen Dritteln der Gesellschaft und belastet die zusätzlich, die ohnehin wenig oder nichts haben.

Wo ist der Kampf mit dem Bauernverband? Wo ist der Kampf mit Beamtenbund und Selbständigen für die Bürgerversicherung? Wo ist der Kampf mit den Philologen um privilegienfreie Schulen nach PISA-Sieger-Vorbild? Wo ist der Kampf mit der Pharma-Industrie (und FDP-MdB Thomae)? Wo ist der Kampf mit Kassenärztlichem Bundesverband und Ärzten? Wo ist der Kampf gegen das EU- rechtswidrige Zunft-System der Meisterprüfung? Wo ist der Kampf mit den Anwälten zur Aufhebung des NS-Rechtsberatungsmissbrauchsgesetzes? Wo ist der Kampf um die Gewerbesteuer für Ärzte, Apotheker, Anwälte, Notare, Architekten? Wo ist der Kampf mit der Getränke-Großwirtschaft um das Dosenpfand? Wo ist der Kampf für die Vermögensteuer und Neugestaltung der Erbschaftsteuer? Wo ist der Kampf gegen Entfernungs-Pauschale und Eigenheimzulage? Wo ist der Kampf um deutlich geringere Vorstandsbezüge in Großunternehmen? Wo ist der Streit mit den Vertriebenen(verbänden), deren irredentistische Eigentumsziele das Verhältnis zu Polen schwer belasten? Wo ist der Kampf gegen quotenträchtige Sendungen im Privat-TV, die Gewalt und Demütigung zum Programm erheben? Statt dessen wird über Grundrechte und christliches Abendland, gegen Zuwanderungsgesetz und Türkei geschwätzt.

Die Reihe ließe sich fortsetzen! Ein wissenschaftliches Projekt wäre wert, wie die Verbandelung mit den Lobbies die Union zum Reformbremser macht. Und warum? Weil ihr die Vorstellung, Vision einer gerechten Gesellschaft christlich-sozialer Prägung abhanden zu kommen droht; sie schielt nur auf vermeintlich starke, finanziell potente Wählergruppen. Darum neoliberale Vorschläge aus der Kiste Merz oder Koch (Wisconsin-Sozialhilfe-Modell unseligen Angedenkens), immer neue Privatisierungsvorschläge, die die da unten treffen, nie die, die Eliten zu sein glauben, da sie viel verdienen. Da dank der CDU die Lasten der deutschen Einheit schon weit überproportional die Sozialversicherungssysteme mit daher zu hohen Lohnnebenkosten tragen, soll wieder zulasten der ArbeitnehmerInnen „saniert“ werden.

Die SPD ist oft wenig vorbildlich (pars pro toto NRW-Steinbrück, Clement, Schröder-Blair-Papier). Weit übertrifft sie die Partei der Besserverdienenden, CDU-Wunsch-Koalitionspartner. Und die Union? Wer hat im neoliberal dominierten FDP-Verschnitt Heiner Geißlers Rolle (Neue soziale Frage), dessen Buch „Was würde Jesus heute sagen?“ Pflichtlektüre sein sollte, oder Norbert Blüms? Warum wird Horst Seehofers Bemühen um die Bürgerversicherung gestoppt? Wer arbeitet noch am Bundesstaat Europa und Distanz zu den Bush-Kriegern? Wer tritt gegen Ludwig Richters Familienidylle für Rita Süssmuths Familien- und Emanzipationspolitik ein, die den Frauen lebenslange Berufschancen auch in hohen Positionen gibt?

Die CDU hat hervorragende Frauen und Männer. Gebe Gott, dass sie ihr wieder ein christlich-soziales Bild geben! Anfang vom Ende der Thatcher-Regierung waren die Distanz zum „Tory-workingman“ Benjamin Disraelis und die Kommunal- Kopfsteuer. Werden Gesundheits-Kopfprämie und „Entsozialdemokratisierung“ à la Merz & Co, der des Bürgermeister-Großvaters Haltung zum NS-Regime zu kommunalpolitischem Vorbild stilisiert, die Union bald wie die britischen Tories bei der letzten Nachwahl gar auf den dritten Platz nach Liberaldemokraten und Labour führen?