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Archiv-Artikel

„Bush hat den Draht zu den Wählern verloren“, sagt Clyde Wilcox

Die Republikaner inszenieren einen Feldzug gegen die Homoehe – ob sie so die Wahl gewinnen, ist mehr als ungewiss

taz: Herr Wilcox, in acht Monaten wird in den USA gewählt. Wird John Kerry den Schwung, den er derzeit hat, beibehalten?

Clyde Wilcox: Nein. Kein Kandidat hat es je geschafft, die Anfangseuphorie über Monate aufrechtzuerhalten. Kerry wurde bislang durch die künstliche Euphorie der Vorwahlen gepusht. Die Kandidaten haben ja alle gegen Bush geschossen, ohne dass Bush zum Gegenangriff übergegangen ist, weil der endgültige Herausforderer noch nicht feststand. Das wird sich nun ändern. Bush hat eine gut gefüllte Wahlkampfschatulle. Und Kerry muss zurück in den Senat, um über Gesetze abzustimmen.

Wie kann Kerry gewinnen?

Er sollte sich auf die Job-Situation konzentrieren. Das Arbeitslosenproblem kann Bush nicht über Nacht lösen. Ein zweiter schwacher Punkt sind Bushs Glaubwürdigkeitsdefizit in Sachen Massenvernichtungswaffen im Irak und die manipulierten Kriegsgründe.

Aber Irakkrieg und Terror rangieren bei den Wählern derzeit weit unten.

Trotzdem wird es ein Thema sein. Bush will und muss den 11. September für sich ausschlachten. Die Republikaner werden ihren Parteitag prestigeträchtig in New York veranstalten. Die Botschaft lautet: „Mir könnt ihr vertrauen. Ich mache Amerika sicherer.“ Kerry muss dem etwas entgegensetzen. Allerdings sollte es nicht sein Schlüsselthema sein.

Ein Wahlkampfstratege aus dem Weißen Haus hat neulich gesagt, dass die Demokraten siegen, wenn sie Bushs Glaubwürdigkeitslücke erfolgreich thematisieren. Stimmt das?

Ja. Bush hat seinen letzten Wahlkampf mit dem Versprechen geführt, Integrität und Anstand zurück nach Washington zu bringen. Wenn sich herausstellt, dass er gelogen hat, ist seine Glaubwürdigkeit massiv untergraben. Da sich die Wähler nicht besonders für seine zentralen Themen – Sicherheit und Terror – erwärmen können, muss er immer wieder betonen, dass er der führungsstärkere und vertrauenswürdigere Kandidat ist. Wenn die Wähler Bush das nicht mehr glauben, wird er verlieren.

Die Republikaner setzten im Wahlkampf auf einen Feldzug gegen die Homoehe. Bush fordert einen Verfassungszusatz, der die Ehe als exklusive Gemeinschaft von Mann und Frau definiert. Riskiert er damit nicht, die unabhängigen Wähler und moderaten Republikaner zu verprellen?

Vielleicht. Bushs Strategen richten diese Botschaft vor allem an die konservative Basis, für die das Thema ganz heiß ist. Sie hoffen, deren Wahlbeteiligung so um einige Prozent zu erhöhen. Die Gesellschaft insgesamt ist in der Frage des Verfassungszusatzes gespalten.

Wird es um die Homoehe eine Art Kulturkampf geben?

Das verhält sich ein wenig wie mit dem Unabhängigkeitskrieg. Damals war niemand entweder völlig für die Unabhängigkeit oder für die Briten. Die meisten Leute standen dazwischen. Der durchschnittliche Amerikaner mag die Idee der Homoehe nicht. Aber wenn er persönlich einen Schwulen kennt, mag er es auch nicht, dass er diskriminiert wird. So sind viele Leute hin- und hergerissen. Das Gleiche gilt für Abtreibung. Viele lehnen sie ab, wollen aber zugleich nicht, dass die Regierung den Frauen vorschreibt, was sie tun dürfen. Rund ein Viertel der Amerikaner vertreten solche Parallelhaltungen. Radikale Kulturkrieger sind in den USA eine Minderheit.

Eine andere Angriffsfläche bei Kerry könnte seine intensive Verbindung zu Lobbyisten sein. Wird ihm das schaden?

Ich glaube nicht. Bush sitzt doch selbst im Glashaus. Viel eher können die Demokraten thematisieren, wie viel politischen Einfluss die Bush-Regierung der mächtigen Wirtschaftslobby einräumt – ein Fakt, der selbst Republikaner beunruhigt.

Als Kerrys Vize ist Bill Richardson, Gouverneur von New Mexico und Latino, im Gespräch. Kerry verdankt seinen Sieg in Kalifornien den Latino-Wählern, die mittlerweile die wichtigste Minderheitengruppe sind. Werden die Latinos eher Bush oder Kerry wählen?

Kerry – weil die Demokraten als Partei der kleinen Leute gelten. Bush hat kürzlich versucht, mit der Initiative, illegalen Einwanderern eine Arbeitserlaubnis zu erteilen, bei den Latinos zu punkten. Aber die Latinos sind besonders hart von Arbeitslosigkeit betroffen. Das zählt.

Die Republikaner scheinen derzeit längst nicht so mobilisiert zu sein wie die Demokraten.

Ja, aber das ist zum Teil normal. Für den Amtsinhaber ist es immer schwierig, seine Partei aufzurütteln, weil das politische Geschäft in Washington mit Taktik und Kompromissen seinen Tribut fordert. Ändern soll das wohl das Thema Homoehe.

Hat Sie bislang in diesem Wahljahr etwas überrascht?

Ja, Bushs miese Umfragewerte. Auch viele Konservative sind ernüchtert – wegen Bushs Haushaltsdefizit und seiner angeschlagenen Integrität. Außerdem hat Bush derzeit offenbar den Draht zu den Bürgern verloren. Das ist für ihn besonders gefährlich, weil er sich stets als Mann von nebenan präsentiert hat.

INTERVIEW: MICHAEL STRECK