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Archiv-Artikel

Willkommen zu Hause

Morgen wird in Griechenland gewählt. Es geht erstaunlich ruhig zu – geradezu normal. Damit geben die Hellenen ihre traditionelle Rolle als das schwarze Schaf Europas auf

Griechische Skandale erschrecken im Europa Kohls, Chiracs und Berlusconis niemanden mehr

Morgen wird in Griechenland gewählt. Das ist an sich nichts Besonderes: Wahlen gibt es in Hellas alle vier Jahre. Aber dieses Mal ist einiges anders als sonst. Der konservative Spitzenkandidat heißt zwar wie gehabt Karamanlis, der Vorsitzende der Sozialisten wie fast immer Papandreou; doch während es in der Vergangenheit bei Wahlen oft zu weltanschaulichen Kollisionen kam, deren Auswirkungen fast ungefiltert in die Außenpolitik drangen, ist heute Kontinuität, Normalität, ja Langeweile angesagt. Sind die Griechen dort angekommen, wo man sie eigentlich schon glaubte – in der europäischen Normalität? Und haben sie dabei nicht das verloren, was sie auszeichnete: ihre Besonderheit?

Die Pflege der griechischen Eigenheiten hat eine lange Tradition. In der Antike interessierten sich die Menschen in Hellas für Kosmos und Philosophie, während der Rest Europas mit der täglichen Nahrungssuche befasst war. Im Mittelalter sonderten sich die Griechen als Orthodoxe religiös vom Rest Europas ab, und als die Chance bestand, sich über die Ideen der Aufklärung näher zu kommen, geriet Hellas unter die Herrschaft der Osmanen – und damit in die Isolation. Im 19. Jahrhundert befreiten sich die Griechen selbst – mit kräftiger Hilfe der europäischen Philhellenen. Aber nach der Unabhängigkeit bekamen sie einen bayerischen König, da sie sich auf kein eigenes Staatsoberhaupt einigen konnten.

Als Europa von den Nationalsozialisten überrannt wurde, gingen die Griechen mit als Erste in den bewaffneten Widerstand. Doch als der Weltkrieg vorbei war, konnten sie sich nicht über eine Nachkriegsordnung verständigen. Das Land stürzte in einen blutigen Bürgerkrieg. Während anschließend selbst in Deutschland und Italien funktionierende Demokratien aufgebaut wurden, probierte das Mutterland der Volksherrschaft Mischformen derselben mit monarchischen Elementen aus. Später ordnete sich Griechenland endlich einer – allerdings zweifelhaften – Staatengruppe zu: den südeuropäischen Diktaturen. Wie Spanien und Portugal regierte zwischen 1967 und 1974 eine Militärjunta, die vom Westen geduldet wurde.

Nachdem die Obristen gescheitert waren, schien Griechenland auf dem besten Wege, endlich nach Europa zurückzukehren. Der erste Ministerpräsident Kostas Karamanlis – der Onkel des heutigen konservativen Spitzenkandidaten – führte das Land schnurstracks in die damalige Europäische Gemeinschaft. Die Erfüllung der wirtschaftlichen Aufnahmekriterien stand dabei eher im Hintergrund. Die EG konnte der Wiege der europäischen Zivilisation schließlich schwerlich den Beitritt verweigern. Zudem sollte die junge Demokratie gestützt werden. Doch nach dem Eintritt in die Gemeinschaft zeigte sich schnell, dass die Sonderrolle Griechenlands damit keineswegs beendet war. Vielmehr liefen griechische Politiker zur Höchstform auf.

Dabei waren die wichtigsten Funktionen in der EG zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon vergeben: Deutschland und Frankreich als konstruktiver Motor, Großbritannien als transatlantischer Zeigefinger, die Beneluxstaaten als Europäer von Herzen und die Dänen als basisdemokratische Bremser. Trotzdem schafften es die griechische Regierung unter Andreas Papandreou – dem Vater des heutigen sozialistischen Spitzenkandidaten – und ihre Nachfolger, in diesem ausgeklügelten Stück gleich mehrere Rollen zu übernehmen.

An erster Stelle stand der Part des armen Verwandten, der zwar eine ruhmreiche Vergangenheit hat, von der die neureichen Familienmitglieder profitieren, aber ohne deren Unterstützung am Hungertuch nagen müsste. Immer wenn es um die Verteilung europäischer Hilfen für strukturschwache Regionen oder den Aufbau von Infrastruktur ging, schlüpfte Athen in diese Rolle und konnte sich so jahrzehntelang große Stücke des Kuchens sichern. Daneben übernahm vor allem Papandreou senior bei EG- und später EU-Gipfeln gerne die Rolle des Klassenclowns: Zu fast jeder Erklärung der Gemeinschaft gab es eine meist krude Sondererklärung Griechenlands, sei es zum Abschuss einer koreanischen Verkehrsmaschine, zur Stationierung einer Friedenstruppe auf dem Sinai oder zum Beginn der europäischen Zusammenarbeit in der Außenpolitik.

Damit war die Basis für Athens wichtigste Rolle in den Neunzigern gelegt: die des „schwarzen Schafs“ in Europa. Unter Berufung auf „nationale Interessen“ blockierte Griechenland Integrationsfortschritte, behinderte die europäische Türkeipolitik und konterkarierte die EU-Politik in Jugoslawien. Der unrühmliche Höhepunkt war das von Massendemonstrationen unterstützte unilaterale Handelsembargo gegen die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Mazedonien, der Griechenland territoriale Ansprüche unterstellte.

Dabei befanden sich die Regierungen in Athen und die griechische Bevölkerung in einem steten Dilemma zwischen der Selbstwahrnehmung als europäischer Staat und der Einschätzung des Auslands, das Griechenland eher als Balkanstaat und damit als notorischen Unruhestifter sah. Im Kosovokonflikt zeigte sich, wie tief das verankert ist, als die Regierung einerseits die Politik der Staatengemeinschaft tolerierte, die Bevölkerung andererseits vehement protestierte und sich mehrheitlich auf die Seite des serbisch-orthodoxen Brudervolks stellte.

Seither ist es still geworden um Griechenland. Die einzigen Nachrichten betreffen die Annäherung an die Türkei, die überraschende Aufnahme in die Eurozone und die Zerschlagung der letzten europäischen Linksterroristenzelle. Die griechische EU-Ratspräsidentschaft 2003 war trotz des Irakkrieges ein Erfolg und brachte im Gegensatz zu allen vorhergegangenen substanzielle Ergebnisse. Es gibt keine griechischen Kapriolen mehr auf europäischer Bühne, selbst in Bezug auf Zypern werden moderate Töne angeschlagen, und die Keule der „nationalen Interessen“ verstaubt in der Schublade. Spätestens mit der EU-Erweiterung 2004 wird Griechenland in den Kreis der arrivierten Mitglieder aufrücken und fortan auf Sonderzuwendungen verzichten: Aufgrund seiner ökonomischen Fortschritte braucht sie das Land nicht mehr.

Athen ist nicht mehr der Klassenclown der EU. Die Keule „nationale Interessen“ verstaubt in der Schublade

Die Hellenen sind in Europa angekommen: Ihre Volksparteien ähneln sich fast bis zur Verwechslung, ihre politischen Skandale verschrecken im Europa Kohls, Chiracs und Berlusconis niemanden mehr, auch außenpolitisch sind sie in ruhigen Fahrwassern angelangt. Wenn man aber die täglichen Katastrophenmeldungen über den Stand der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Athen 2004 beobachtet und dennoch sicher sein kann, dass sie stattfinden, weiß man, dass sie dieses Besondere immer noch tief im Innern mit sich tragen.

Trotzdem muss die EU sich ein neues „schwarzes Schaf“ suchen, denn Athen wird diesen Part nicht mehr einnehmen. Zum Glück gibt es von der anderen Seite der Adria schon eine aussagekräftige Bewerbung.

CHRISTOS KATSIOULIS