EIN SOFORTIGER ABZUG AUS GAZA WÄRE UNBLUTIGER VERLAUFEN : Lektion Jericho
Israels Premierminister Ariel Scharon hatte vor Zeiten angekündigt, Truppen und Siedler aus dem Gaza-Streifen abzuziehen. Eigentlich hätte schon diese Ankündigung die Lage beruhigen müssen. Die palästinensischen Behörden hätten das in Aussicht gestellte Ende der Besatzung zu einer Demonstration von Ruhe und Ordnung nutzen können – und zeigen, dass sie bereit und in der Lage sind, den Landstreifen unter Kontrolle zu halten.
Stattdessen häufen sich die Versuche milianter Oppositionsgruppen, mit Übergriffen Punkte für die Zeit danach zu sammeln. Dabei geht es um die Frage, welche Gruppierung den größten Beitrag geleistet hat, um die israelischen Truppen in die Flucht zu schlagen. Es soll der Eindruck entstehen, dass Israel zum Abzug gezwungen wurde. Und das gerade deshalb, weil den Entwicklungen eben keine bilaterale Einigung zugrunde liegt.
Schon 1994, wenige Monate nach der Unterzeichnung der Osloer Abkommen und der bilateralen Einigung über die Einführung einer schrittweisen Autonomie zunächst in Gaza bis nach Jericho, lebte die Intifada in dem bis dahin ruhigen Ort an der Grenze nach Jordanien noch einmal auf. Die Menschen in Jericho nutzten die letzten Monate der Besatzung, um sich doch noch in die Reihen der Widerstandskämpfer einzugliedern. Niemand sollte sagen, dass sie nichts für die Befreiung Palästinas vom israelischen Joch unternommen hätten.
Obschon die Palästinenser im Gaza-Streifen ihren kämpferischen Widerstandswillen nicht unter Beweis zu stellen brauchten, hätte die israelische Regierung die Jerichoer Lektion lernen und im Auge behalten müssen. Ein sofortiger Abzug wäre sicherlich unblutiger verlaufen. Vielleicht aber ist der eskalierende Widerstand in Gaza gerade das, worauf Scharon spekulierte – ermöglicht er ihm doch, seine Truppen zu massiven Operationen in die Gebiete zu schicken, die er eigentlich erklärtermaßen aufgeben will. Es gilt für Israel, nicht nur den Palästinensern, sondern der gesamten arabischen Welt gegenüber ein klares Zeichen zu setzen: Wir gehen als die Stärkeren – und kommen wieder, wenn das nötig sein sollte. SUSANNE KNAUL