Blutiges Wochenende im Gaza-Streifen

Nach einem palästinensischen Sprengstoffangriff rückt Israels Armee in zwei Flüchtlingslager ein. Politiker von Regierung und Opposition sehen einen Zusammenhang zwischen der eskalierenden Gewalt und Scharons Rückzugsankündigung

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Zwanzig Tote und über 80 Verletzte sind die Bilanz des blutigsten Wochenendes im Gaza-Streifen seit eineinhalb Jahren. Die Operation der israelischen Armee gestern früh folgte auf einen Angriff dreier mit Sprengstoff beladener Jeeps am Eres-Kontrollpunkt am Vortag. Einer der Wagen war in unmittelbarer Nähe eines palästinensischen Polizeistützpunkts explodiert. Dabei starben zwei der Sicherheitsleute, die vermutlich versucht hatten, das Fahrzeug zu stoppen, sowie der Fahrer des Autos. Das zweite Fahrzeug explodierte Sekunden später, während der dritte Angreifer seinen Wagen auf den ersten israelischen Wachposten lenkte und von den Soldaten erschossen wurde. Israelische Politiker sehen eine Verbindung der eskalierenden Gewalt zu dem von Premierminister Ariel Scharon angekündigten einseitigen Abzug aus dem Gaza-Streifen.

Dutzende Panzer und mehrere Hubschrauber waren bei dem Gegenschlag der Armee in den beiden Flüchtlingslagern Bureij und Nusseirat beteiligt. Nach stundenlangem Gefecht sollen mehrere Dutzend Palästinenser einem über die Lautsprecher der Moscheen verbreiteten Aufruf nachgekommen sein, sich freiwillig zu stellen. Verhaftungen wurden dennoch nicht vorgenommen. Ebenso wenig konnte die Armee Waffenverstecke ausfindig machen, was erklärtes Ziel der „punktuellen Aktion“ war. Die palästinensische Führung warnte Israel, dass die tödliche Razzia ihren Preis fordern werde.

In Israel mehren sich unterdessen die kritischen Stimmen gegenüber Scharon, der mit seiner Ankündigung eines einseitigen Rückzuges aus dem Gaza-Streifen „den Terror anheize“, so Minister Usi Landau (Likud) gegenüber der „Stimme Israels“. Solange es keine direkten Verhandlungen gebe, müsse „der Kampf gegen den Terror fortgesetzt werden, ohne von Kompromissen zu reden“. Verhandlungen wiederum könnten erst dann wiederaufgenommen werden, wenn die palästinensische Führung „klare Schritte gegen die Terrororganisationen unternimmt“.

Auch aus den Reihen der Arbeitspartei wurde Kritik an dem Regierungschef laut, der bislang nur über den Abzug rede. Stattdessen gelte es jetzt „schnell und entschieden die Truppen zurückzuziehen“ und die im Gaza-Streifen lebenden Juden in Israel anzusiedeln. Sobald das geschehe, stünde auch die Arbeitspartei als Regierungspartner wieder bereit. „Wenn die Regierung unser Parteiprogramm umsetzt, gibt es für uns keinen Grund, länger in der Opposition zu bleiben“, meinte Ramon, der allerdings Zweifel an den Absichten des Premierministers hegt. Sollte er nicht vorhaben, aus dem Gaza-Streifen abzuziehen, dann „darf er auch nicht darüber reden“. Die Gewalteskalation im Gaza-Streifen nannte Ramon mit Blick auf die Zeit nach dem Abzug einen „Kampf ums Erbe“. Vorläufig sei „Israel der Hausherr“, betonte er. Die fortgesetzte Aggression des Militärs führe zu einem „Teufelskreis“.

Professor Ali Jerbawi von der Universität Bir-Zeit hält einen Machtkampf der Widerstandsorganisationen indes für unwahrscheinlich. „Alle Fraktionen haben sich zu einer Zusammenarbeit bereit erklärt“, meinte Jerbawi auf telefonische Anfrage. Die Autorität der palästinensischen Führung werde nicht in Frage gestellt. Obschon Jerbawi einen Abzug nach einer bilateralen Einigung bevorzugen würde, glaubt auch er, dass, „wenn die Israelis den Abzug einseitig beschließen, er besser heute als morgen vorgenommen wird“. Die jüngsten Eskalationen gingen allein auf das israelische Konto. „Teil der Vorbereitung des einseitigen Abzugs ist, dass die israelische Armee noch einmal ihre Kraft demonstriert.“ Der palästinensische Angriff auf den Eres-Kontrollpunkt habe mit dem geplanten Abzug nichts zu tun.

Die drei führenden militanten Widerstandsgruppen Hamas, Islamischer Dschihad und die Fatah-nahen „Al-Aksa-Brigaden“ hatten gemeinsam die Verantwortung für den Überfall übernommen. Nach Ansicht des ehemaligen Sicherheitschefs im Gaza-Streifen, Mohammad Dahlan, verfüge die „Fatah nicht über die Mittel“, den militanten Flügel der Partei zu entwaffnen. Eine solche Entscheidung müsse von der palästinensischen Führung getroffen werden.

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