: Greifbares Matriarchat
INTERVIEW HEIKE HAARHOFF
taz: Herr Hansen, Sie sind Archäologe und untersuchen anthropomorphe, also menschenähnliche Plastiken der Jungsteinzeit und Kupferzeit in Südosteuropa. Kolleginnen von Ihnen behaupten, dass Frauen nach den Wechseljahren, die die Fundorte solcher Figuren besucht haben und in den Statuen Repräsentantinnen einer Großen Göttin erkannten, plötzlich wieder menstruierten. Haben Sie von solchen Fälle auch schon gehört?
Svend Hansen: Nein. Aber ich weiß, dass insbesondere für den spiritualistischen Teil der Frauenbewegung solche archäologischen Fundstätten Kultorte sind. Sie liegen in Ungarn, Tschechien oder Malta sowie Bulgarien, Rumänien oder der Türkei. Es werden regelrechte Pilgerfahrten dorthin unternommen.
Welche Magie geht von den Figuren aus?
Im 10. Jahrtausend vor Christus kam es in Mesopotamien sowie im Gebiet der heutigen Osttürkei und der Grenzregion zwischen Iran und Irak zur Herausbildung einer neuen Lebensweise. Nach Millionen Jahren als Jäger und Sammler begannen Menschen, Nahrungsmittel zu produzieren, Pflanzen zu kultivieren, sesshaft zu werden und mit neuen Materialien umzugehen, vor allem mit Ton. Durch die Herausbildung der bäuerlichen Lebensweise, die so genannte „Neolithische Revolution“, finden wir in diesen frühen bäuerlichen Siedlungen eine Reihe von kleinen Tonfigürchen, später, also im 7. Jahrtausend, dann auch in Anatolien, und ab etwa 6.000 vor Christus in allen Bereichen Südosteuropas. Insgesamt kennen wir so etwa 50.000 Figürchen, deren größere Formate für uns nicht leicht erkennbar sind, denn von den 50.000 Figürchen sind etwa 49.500 fragmentiert.
Was ist diesen Figuren gemeinsam?
Sie zeichnen sich durch eine starke Stilisierung aus, sind also keine Porträtfiguren, sondern stehende und sitzende Figuren in Frontalansicht mit klar definierten Haltungen der Arme, die auf dem Bauch liegen, unter den Brüsten oder seitlich weggestreckt sind. Die vorherrschende Meinung ist, dass es sich um Frauendarstellungen und nur bei etwa zwei Prozent um Männerdarstellungen handelt.
Warum zweifeln Sie daran?
Wenn man genau hinschaut, merkt man, dass die Vorurteile, die an diese Figuren herangetragen werden, nicht eindeutig sind. Es heißt, es handele sich um füllige Frauenstatuen, deren Brüste betont sind, die ein übersteigertes Hinterteil haben und große Darstellungen des Schambeins. Tatsächlich sind die wenigsten mit eindeutigen primären Geschlechtsmerkmalen dargestellt. Stattdessen gibt es auch Paardarstellungen, bei denen beide Figuren Brüste haben. Jetzt kann man sich Gedanken machen zu den biologischen Aspekten. Aber man kann das Ganze auch als plastisches Problem verstehen: dass die neolithischen Tonbildner vielleicht bloß zeigen wollten, dass auch Männer Brüste haben. Es gibt viele Oberkörper mit Brüsten, aber es ist nicht mit völliger Sicherheit daraus zu schließen, dass es sich um Frauen handelt.
Hinzu kommt, dass die meisten Figuren zerbrochen sind. Das erleichtert die Identifizierung nicht gerade. Bedauerlicherweise ordnen manche Forscher die Figuren mit einer kulturell geprägten Sicherheit ein, nach dem Motto: Ich weiß ja, wie eine Frau aussieht. Das hilft uns nicht weiter. Nur weil eine Figur dicke Beine hat oder Röckchen trägt, ist sie noch lange keine Frau. Man muss sich fragen, ob die Vehemenz, mit der behauptet wird, die neolithischen Figuren seien eindeutig Frauendarstellungen, nicht das Resultat einer bestimmten Forschungstradition ist und das Nachdenken über mögliche andere Interpretationen blockiert.
Trotzdem hält sich der Glaube, es handele sich um Frauenfiguren, um Repräsentationen einer Großen Göttin. Was ist so attraktiv an dem Gedanken?
Dahinter steckt gesellschaftliche Erfahrung, in der Frauen sich als zurückgesetzt, als nicht vollständig teilhabend erfahren. Das ist natürlich real. Die Frage, die sich anschließt, ist: Gab es eine Zeit, in der das anders war, in der Frauen mindestens gleichberechtigt teilhatten an der Gesellschaft und ihren Gesetzen? Die Figürchen werden als materieller Beweis für die Existenz einer frauenzentrierten Welt gesehen. Sie sind das Matriarchat zum Anfassen.
Und das bezweifeln Sie?
Selbst wenn es ein Matriarchat gegeben hat, heißt das nicht zwingend, dass Frauen heute zu mehr Gleichberechtigung kommen werden. Und selbst wenn es noch nie ein Matriarchat gegeben hat, heißt das nicht, dass dieser Anspruch nicht legitim sei. Gegenwart oder Zukunft mit der Vergangenheit zu legitimieren oder zu delegitimieren kann nicht funktionieren.
Lassen sich über die Figuren Aussagen treffen über Alltag und Geisteshaltung der neolithischen Gesellschaften?
Dass diese Gesellschaften im Einklang mit der Natur gelebt hätten, wie häufig behauptet wird, das ist Fiktion. Diese Gesellschaften griffen massiv in die Landschaft ein, sie fackelten den mitteleuropäischen Wald ab – das nennt man dann vornehm Brandrodung – und legten dort ihre Äcker an. Und wenn die Böden erschöpft waren, zogen sie weiter.
Welche Bedeutung hatten die Figuren für diese Gesellschaften?
Die Kontexte, aus denen diese Figuren stammen, lassen keine eindeutigen Aussagen zu. Ihre Qualität und die stilistische Einheitlichkeit in größeren Regionen zeigen aber, dass es keine Gelegenheitsprodukte sind. Sie wurden von Leuten geformt, die darin eine besondere Fertigkeit hatten. Interessant ist, dass ihre Herstellung vom Vorderen Orient bis nach Ungarn nach immer demselben Schema vollzogen wurde: Man fertigte einzelne Bauteile an und verband sie durch ein Hölzchen. Es gibt keinen Grund dafür, der sich aus der plastischen Beschaffenheit oder aus dem Brennen heraus erklären ließe. Man kann nur darüber nachdenken, ob diese Figuren so hergestellt sind, um sie passgenau wieder zerbrechen zu können.
Wozu hätte das gut sein sollen?
Das wissen wir nicht. Nur so viel: Sie scheinen an den häuslichen Kontext gebunden zu sein. Wir Archäologen können das nur feststellen, aber nicht klären, warum das so war.