dekorative hängebacken von ILKE S. PRICK
:

„Gisela macht jetzt Übungen“, sagt meine Freundin, als sie sich den sechsten Minischokokuss in den Mund schiebt, penibel ausgehöhlt und bis zum Rand gefüllt mit Eierlikör. „Übungen?“, frage ich ungläubig und nehme die Flasche wieder an mich. „Ja“, schmatzt sie genüsslich, „im Bett, jeden Abend.“ – „Jeden Abend? Was denn? Hanteln?“ – „Nein, so was Ähnliches wie Stretching“, kommt die Antwort leicht vernuschelt, weil der Waffelboden in ihrem Mund festgepappt ist. „Stretching?“ Meine Finger bleiben am Schraubverschluss kleben. „Na ja“, sie schnalzt mit der Zunge, um den Gaumen zu befreien, „im weitesten Sinne. Sie übt dekoratives Liegen.“

„Dekoratives Liegen?“ Ich blicke leicht verwirrt erst auf die Eierlikörflasche, dann auf die Schokoküsse. „Du weißt doch wie das ist mit dem Alter“, meine Freundin lächelt charmant und schaut auch auf die Schokoküsse. „Man muss was machen für die Optik. Und Gisela hat festgestellt, dass sie sich, wenn sie im Ernstfall nicht mehr an den Lichtschalter kommt, nur unauffällig auf die Seite legen muss. Die Hüfte leicht gedehnt, den Arm über das Ohr drapiert, und schon kann sie fünf Kilo kaschieren. Mindestens. Ganz ohne Hanteltraining. Nun muss sie nur noch herausfinden, wie sie sich von einer Seite auf die andere dreht, ohne dass es den Gesamteindruck stört.“ Kommentarlos stecke ich den nächsten Schokokuss zurück in den Karton.

Meine Freundin weiß, wo es wehtut. Vor einer Weile sind wir gemeinsam in einem chinesischen Teehaus gewesen. Ganz nett war es da. Schwarz lackierte Tische mit spiegelnden Glasplatten drüber. Und dann geschah es. In dem Moment, als ich meine Nase über den Jasmintee hielt, kollidierte mein Gesicht mit der Tischplatte. Beinahe jedenfalls. Meine Wangen müssen mit der Zeit unbemerkt ein Eigenleben angenommen haben, denn beim Blick in den Tee waren sie schneller als das Restgesicht.

„Bindegewebsschwäche, ganz klar!“, stellte meine Freundin fest. Ich blickte in ihr breites Grinsen, das auch auf der Tischplatte aufgetaucht war. „Mangelnde Nährstoffe, zu wenig Schlaf, die abgeflachte Papillenstruktur der Unterhaut. Was erwartest du da?“ – „Vielleicht ist es nur die Erdanziehung“, versuchte ich eine Ehrenrettung. „Natürlich, und die wird im Laufe der Jahre stärker.“ Unbarmherzig rührte sie in ihrer Tasse und sah mich an, als ob irgendwo hinter meinem Ohr ein Schild mit dem Haltbarkeitsdatum klebte. „Aber keine Bange, du bist nicht allein. Gisela überlegt auch schon, ob sie das mit dem oben liegen überhaupt noch verantworten kann. Aus ästhetischen Gründen. Das Bindegewebe, wie gesagt.“ Tröstend war das nicht.

„Wo Masse ist, können keine Falten sein“, sagt meine Freundin kichernd, während sie den letzten Schokokuss mit Zartbitterschokolade zermalmt. „Vielleicht solltest du deine Hängebacken ein bisschen auspolstern.“ Sie reicht mir den Karton. Wie viel Jahre stehen eigentlich auf Mord im Affekt? Ich muss mich mal erkundigen. „Willst du etwa keinen mehr?“ Sie schaut mich an mit diesem unschuldigen Augenaufschlag, den ich ganz besonders hasse. Soll sie doch platzen. Mir egal. Völlig! Außerdem sind sowieso nur noch weiße drin. Und die mochte ich noch nie.