Das Glück von Graz

Österreichs „Diagonale“ hat ihre Autonomie behauptet. Das Filmfest stand in diesem Jahr ganz unter dem Eindruck der bestandenen Machtprobe

VON DIETRICH KUHLBRODT

„Was ich noch sagen wollte.“ Der Videobrief, den Tobias Dörr an seine Tante, die Klosterfrau Wulfilde, schreibt, war der berührendste Film des Filmfests in Graz. Schnörkellos, herzlich, katholisch. Ganz wider Willen öffnet sich etwas Altmodisches in mir. Die Seele? Und wenn die verrunzelten Nonnenhände in die Großaufnahme kommen, kämpfe ich mit den Tränen. Das kann doch nicht wahr sein! Es ist wahr. Ein Wunder! Das Wunder in Graz, der Stadt des österreichischen Filmfests, der Diagonale!

Noch unglaublicher aber ist das politische Wunder von Graz. Die Diagonale kämpfte im letzten Jahr für ihre Autonomie. Und siegte. Die Wiener Bundesregierung hatte 2003 die beiden missliebigen Intendanten Constantin tin Wulff und Christine Dollhofer vertrieben und durch willfährige, kommerztreue und TV-fromme ersetzt. Als Ehrenpräsident wurde gar der Berlusconi-Manager Jan Mojto inthronisiert.

Ein Staatsstreich. Und wenig überraschend. Hatten doch die beiden Intendanten im Jahr 2000, dem Haider-Jahr, die Diagonale zum Protestforum umfunktioniert. „Die Kunst der Stunde ist Widerstand.“ Acht Stunden lang liefen agitatorische Spots, Demobilder und radikale Satire. Die Lage der Nation wurde einsichtig.

Eine Solidarisierungswelle schwappte durch das Land. Das Festival war politisiert worden, ohne dass es sich politisch hätte organisieren müssen. Im Grazer Jahr 2000 stellte sich das Gefühl ein, einer historischen Stunde beigewohnt zu haben. Die theoretische Absicherung konnte folgen. Ihr ging das Konzept des Festivals voraus, dem österreichischen Film ein autonomes Forum zu bieten.

Im Herbst 2003 zeigte sich, wie nachhaltig die Solidarisierung war. Hans Hurch, der Direktor des internationalen Filmfests in Wien, der Viennale, rief zum Boykott der von der Wiener Regierung verfügten neuen Diagonale auf. Das Filmarchiv Austria, das Österreichische Filmmuseum und nach und nach auch die Branchen folgten. Die Stadt Graz und das Land Steiermark widmeten schließlich die Festivalgelder um. Vor allem aber war es das alte Diagonale-Team, das aus dem Stand und zunächst ohne jede Absicherung die originale Diagonale als Gegenfestival aufbaute. Und ohne bezahlt zu werden. Und ohne Intendanten. Aber mit einem versierten Sprecher. Mit Alexander Dumreicher-Ivanceanu von der Amour-Fou-Produktion. Ja, es war ein Wunder. Der Berlusconi-Präsident und die neuen Regierungsintendanten warfen das Handtuch. Die Diagonale fand statt, wieder als kritische Plattform der Gegenöffentlichkeit, ihre Autonomie ist gesichert: Sie wählt sich jetzt selbst ihre Intendanten. „Graz ist ein Modell für Selbstbestimmung und Zivilcourage geworden“ – das schrieben u. .a. Lisl Ponger und Ulrich Seidl im Diagonale-Manifest.

Stolze Worte. Ein Modell. Auch für Deutschland? Schiebt man so etwas nicht als abgestandenen Siebzigerjahre-Kram weg? Doch in Österreich, in Graz, kamen dieses Jahr pro Diagonale-Tag noch mehr der jungen Leute, die sich in den Diagonale-Kinos drängen. Und dort diskutierten. Das Fest ist in der Stadt fest verankert. Es hat dort seine Basis. Kurze Filme laufen neben langen, Dokus neben struktureller Avantgarde.

Thomas Draschans fabulöser „Encounter in Space“ spinnt altes Film- und TV-Material weiter. Applaus. Und der Filmemacher Martin Bruch, erkrankt an multipler Sklerose, fährt in seinem langen „handbikemovie“ auf seinem handgetriebenen Handbike durchs Land. Und durch Metropolen. Er widersetzt sich einer sonst doch selbstverständlichen Reglementierung des Raums. – Er bekam jetzt, 2004, den Großen Preis der Diagonale.

Klar, dass auch Michael Glawogger („Megacities“) mit seinen „Nachtschnecken“ Erfolg bei den Zuschauern hatte. „Für mich sind Pornofilme etwas sehr Wahrhaftiges. Und ebendieses Terrain beginnt sich der andere Film, der Nichtpornofilm, im Moment zu erobern“ (Glawogger). Auch dort mag man die Zukunft sehen. Bitte schön. Aber dass die örtliche Kleine Zeitung zur originalen Diagonale „Ausnahmezustand in Graz“ titelt, wollen wir festhalten. „Es lebe Graz!“ (Brigitte Kausch).

Aber, aber. Wie wird es im nächsten Jahr aussehen? Mit den neuen, selbst gewählten Intendanten (Bewerbungsfrist: 18. März)? Ich bekomme mitten in der allgemeinen Euphorie einen kalten Fuß. Oder zwei. Österreichs Produzenten, gerade noch auf den Diagonale-Zug aufgesprungen, wollen das Festival in eine dieser Messen umfunktionieren. Mit der Regierung sind sie im Gespräch.

Jei, ihr Autonomen in Graz. Passt auf! Auf das Wunder folgt die Ernüchterung!