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Archiv-Artikel

Thermometer für alle

„Einige Wochen können viele Freunde finanziell überstehen, aber was wird dann?“

aus Peking JUTTA LIETSCH

Kein Tisch bleibt frei an diesem sommerlichen Maiabend im südchinesischen Spezialitätenrestaurant am Qianhai-See von Peking. Stimmengewirr schallt über das Wasser. Lampions schwanken im Wind. Am Ufer schmusen Liebespaare. Alte und junge Tänzer wiegen sich zu Foxtrott und Walzer aus dem Kassettenrekorder.

Eine Stadt, die aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Nach zwei langen Wochen der Erstarrung, in der sich die Bewohner aus Angst vor der Atypischen Lungenentzündung in ihren Wohnungen verkrochen hatten, scheinen viele Pekinger wieder ins Leben zurückzukehren.

Dennoch ist die Hauptstadt noch weit vom Alltag entfernt. Leere Straßen, Kaufhäuser ohne Kunden und stille Büros künden von der Angst vor dem Virus.

Die 40-jährige Zhou Yuan sagt: „Wir bleiben zu Hause.“ In ihrer Konzertagentur herrscht Ruhe, alle Veranstaltungen der kommenden Wochen sind schon abgesagt. Ihre neunjährige Tochter hat Zhou seit Wochen nicht gesehen. Deren Internatsschule am Pekinger Stadtrand isoliert bis Juli alle Kinder – Elternbesuche verboten. Per Handy, SMS und E-Mail informiert sie sich bei ihren Freunden über die neuesten Nachrichten und Gerüchte.

Was werden soll, wenn die SARS-Welle sich noch lange hinzieht, darüber mag keiner nachdenken: Wie viele Geschäfte werden Bankrott gehen, wer wird seinen Job verlieren? „Ein paar Wochen“, sagt ihr Mann, können die meisten unserer Freunde finanziell überstehen, „aber was wird dann …?“

Wenn alles gut geht, könnte der Höhepunkt der Infektionen irgendwann im Juni überschritten sein, haben Experten der WHO gesagt. Sicher ist das keineswegs. Selbst wenn das Virus in Peking eingedämmt wird, könnte es doch immer wieder von den Dörfern des armen Hinterlands erneut in die Hauptstadt zurückgebracht werden.

Einige von Zhous Bekannten gehören zu den über 10.000 Pekingern, die inzwischen in ihren Wohnungen, Universitäten, Hospitälern und auf Baustellen in Quarantäne sitzen. Die Krankheit hat auch ihr Gutes: Viele finden zum ersten Mal Zeit, ausführlich mit ihrem Kind zu reden und zu spielen: Der Unterricht an den Grund- und Mittelschulen der Hauptstadt ist bereits seit Wochen unterbrochen.

Die erzwungene Ruhepause ist, so hat eine Freundin gesagt, „nach all der Hektik der letzten Jahre wie ein Aufruf, über das Leben nachzudenken.“ Weil die meisten Pekinger nur noch selten ins Restaurant gehen, wird wieder zu Hause gekocht.

Zhou wohnt in einer Siedlung am Stadtrand, deren Bewohner sich vor Besuchern von außerhalb abschotten. „Versuch erst gar nicht, mich zu besuchen“, sagt sie. Sie ist froh, dass ihre Familie einen Privatwagen hat. Im Bus oder im Taxi möchte sie nicht sitzen: „Hast du nicht von dem Taxifahrer gehört, der gleich 100 Leute angesteckt hat?“

Wie vor Zhous Wohnviertel sieht es inzwischen in allen Dörfern um die Hauptstadt herum aus: Erdhaufen, Baumstämme, Taue oder Tischplatten versperren die Zufahrten. „Kein Außenstehender kommt hier rein“, sagt eine Bäuerin, die in einem zerschlissenen Sessel am Eingang eines Dorfes sitzt.

Neben ihr steht ein Sprühbehälter mit Desinfektionsmitteln. Selbst ihr eigener Sohn, der in Peking arbeitet, „ist wegen SARS jetzt nicht erwünscht“, berichtet sie. „Er soll uns erst wieder besuchen, wenn die Krankheit im Griff ist.“

Die Angst vor Ansteckung hat auch die ausländischen Geschäftsleute, Diplomaten, Techniker und Journalisten in Peking zu Aussätzigen gemacht. Dienstreisen bergen Risiken, weil niemand weiß, ob man in anderen Städten isoliert wird. Geschichten machen die Runde, in denen Chineareisende nach ihrer Rückkehr nach Deutschland von Kollegen und Verwandten tagelang gemieden wurden und sogar Ärzte Termine absagten, nachdem sie erfuhren, dass der Patient aus der SARS-Stadt Peking kam.

Zwar hat die deutsche Botschaftsschule in Peking nach den Osterferien wieder mit dem Unterricht begonnen, doch rund ein Drittel der Schüler fehlt, weil ihre Eltern in Deutschland geblieben sind. Die anderen müssen am Morgen ihre Hände infizieren und Fieber messen.

Viele Deutsche halten die Entscheidung, die Schule zu öffnen, für voreilig. „Was passiert, wenn mein Kind krank wird?“, fragt eine Mutter. „Man kann doch nicht ins Hospital, weil dort die Ansteckungsgefahr zu groß ist.“

Die 49-jährige Hausangestellte Zhang Aihua zuckt jedes Mal zusammen, wenn sie auf der Straße die Sirene eines Krankenwagens hört. „Das Schlimmste ist, dass man nicht weiß, ob es uns auch bald trifft“, sagt sie. Mit einer Mischung aus tiefer Skepsis gegenüber der staatlichen Presse und der Sehnsucht nach guten Nachrichten sucht sie jeden Tag in der Pekinger Abendzeitung die neuesten Informationen darüber, wie sie sich und ihre Familie schützen kann. Sie verschlingt Berichte über die heldenhaften „Kämpfer in weißen Kitteln“ und empört sich über Hundehalter, die ihre Tiere aus Angst vor SARS aus dem Fenster warfen.

Von den vielen Stärkungsmittelchen und Kräutertees, die Zhang in der traditionellen chinesischen Apotheke kaufte, hat sie schon Magenschmerzen bekommen. Doch auf ihre wichtigste Frage: „Wo ist es in Peking am gefährlichsten, wo steckt man sich am ehesten an?“, findet sie keine Antwort.

Das liegt nicht nur an der Unberechenbarkeit des SARS-Virus, sondern auch an der schwerfälligen und überforderten Bürokratie. Zwar wurde Gesundheitsminister Zhang Wenkang inzwischen durch die hochrangigste Frau in Chinas KP, Politbüromitglied Wu Yi, ersetzt. Aber trotz des Drängens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gelangen nach wie vor wichtige Daten nicht nach außen. „Die Öffentlichkeit braucht Informationen darüber, wann und wo sich Menschen infizieren“ warnen Mitarbeiter der WHO in China: „Wir müssen wissen, in welcher Phase des SARS-Ausbruchs wir uns derzeit befinden. Aber das wissen wir nicht.“

„Nach der Hektik der letzten Jahre haben wir jetzt Zeit, übers Leben nachzudenken“

Dafür lässt die KP Propagandasprüche und Hygienetipps auf die Bevölkerung rieseln. Im Stadtteil Haidian mit seinen rund drei Millionen Einwohnern hat jede Familie ein Fieberthermometer bekommen und muss die Temperatur aller Mitglieder täglich auf einer Karte eintragen. Die Rentnerinnen der alten Nachbarschaftskomitees haben sich in den traditionellen Hutong-Vierteln nun in SARS-Frontposten mit Kittel und Gesundheitsbroschüre verwandelt. Parolen wie „Die Massen vereinigen im Kampf gegen SARS“ hängen an Brücken und öffentlichen Gebäuden.

Weil die Pekinger SARS-Kliniken schon seit Tagen nicht mehr alle Menschen aufnehmen können, die mit hohem Fieber und trockenem Husten in der Aufnahmestation erscheinen, haben die Behörden in Xiaotangshan, kurz hinter dem sechsten Autobahnring, vor den Toren Pekings in Rekordzeit ein Hospital mit 1.000 Betten auf ein Feld gestellt.

Erdhaufen und Bauschutt säumen die eilig gepflasterte Zufahrtsstraße. Ein Schild weist den Weg zur „Fahrzeug-Desinfektion“: eine Mulde mit scharf riechender Chemikalienbrühe, durch die jedes Auto rollen muss, bevor es auf das Krankenhausgelände darf.

„Bleiben Sie weg, es ist gefährlich“, ruft ein Arbeiter, der mit weißem Kittel, Gummistiefeln und Mundschutz in der Flüssigkeit steht. Genau so gekleidet sind die Wachen, die – Funkgeräte in der Tasche – mit den Händen an der Hosennaht an den Ecken stehen oder im Gleichschritt um die hohe Mauer patrouillieren. Dahinter verbergen sich Reihen weißer, aus Fertigbauteilen zusammengefügter Patientenbaracken.

Das Xiaotangshan-Hospital ist die vorerst letzte Bastion der Hauptstadt im „Volkskrieg“ gegen die Lungenentzündung, zu dem Chinas Präsident Hu Jintao aufgerufen hat. Über 300 Patienten sind in den ersten Tagen bereits in das Provisorium verlegt worden, wo sie von Ärzten und Pflegepersonal der Volksbefreiungsarmee versorgt werden. In den letzten Tagen haben die Zeitungen rührende Fotos von den heroischen Militärmedizinern gezeigt, die sich von ihrer Familie verabschieden, um sich an die Front des Anti-SARS-Kampfes zu begeben.

Auch ein chinesischer Journalist ist inzwischen in Xiaotangshan. Er war in den letzten Tagen entdeckt worden, als er sich zusammen mit SARS-Patienten in den Isolierbereich des Geländes geschmuggelt hatte. Der eifrige Reporter werde, so gab ein Sprecher der Stadtregierung jetzt bekannt, gleich vierzehn Tage in Quarantäne behalten, „um sicherzustellen, dass er sich nicht angesteckt hat“.

Auf dem Acker neben dem Xiaotangshan-Hospital sind weiße Kreidelinien zu sehen: Platz für neue Krankenstationen.