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Archiv-Artikel

Sozialhilfe und Bürgerrecht

Familien – oder familienähnliche Strukturen – müssen den Wohlfahrtsstaat ersetzen, diagnostizierte der Soziologe Heinz Bude in der taz. Ein Widerspruch von Angelika Poferl

Solidarität mit nicht so leistungsfähigen Mitgliedern einerGesellschaft ist keine bloße Gnade

Der Soziologe Heinz Bude hat in der taz vom 28. 2. in einem Interview die Renaissance konservativer Familienwerte festgestellt. In dem Gespräch diagnostiziert er die gesellschaftliche Wiederentdeckung von Gefühlen der Verpflichtung und Verbindlichkeit ebenso wie ein wieder erwachtes Bedürfnis nach Halt und Orientierung. Dies mache sich an einer neuen Bedeutung von Familie fest, die – so Bude – ein Revival als Verantwortungszusammenhang und Erfahrungsraum praktisch gelebter wechselseitiger Unterstützung erfährt; dies im Übrigen auch und gerade bei den bisher Unverdächtigen, den linken, liberalen, irgendwie modernisierten Milieus der Thirty-, Fourty-, Fiftysomethings. Mittlerweile, man ahnt es, geht es auch um uns. Aus dieser Wende leitet Bude ab, dass die Familie zu unterstützen sei, insbesondere durch eine Ökologie der Kinderbetreuung durch Institutionen und Netze, die das Gefüge familiären oder familienähnlichen Zusammenlebens ergänzen.

Politisch beinhalte dies zunächst „harte Konsequenzen“ – eine Reduktion staatlicher Individualtransfers, etwa der Sozialhilfe. Darüber hinaus sei sozialpolitisch ein grundsätzlicheres Umdenken angesagt: Der integrationistische Wohlfahrtsstaat, wie verdienstvoll auch immer, hat seinen Dienst getan und Integration realisiert, nun steht anderes an. Begriffe wie Verantwortung, vor allem als Eigenverantwortung, Verpflichtung als Verpflichtung gegenüber der Welt (unter Beachtung der Finanzlage!), Respekt und Freiheit und nichts weniger als all das markieren den Horizont des neuen Paradigmas, auf das hinzuwirken wäre. Das klingt gut. Und das mit der Sozialhilfe muss halt sein. Wirklich? Zu drei Punkten ist Widerrede angebracht:

Erstens wirken die Ausführungen zur Familie, charakterisiert als „Anderthalb-Personen-Modell“, so geschlechtsblind, dass man es kaum glauben möchte. Zum einen wird darin fraglos fixiert, wie sich die anderthalb Personen rollenspezifisch auf Familien- und Erwerbsarbeit aufteilen – so fraglos, dass es gar nicht gesagt zu werden braucht. Darf man raten? Das Ganze ist der Mann, das Halbe die Frau. Diese ist wiederum symbolisch schon so halbiert, dass sie in der gesprächsführenden Herrenrunde nur als „Mädels“ bezeichnet wird. Aus diesem Alter sind aber nicht nur die Männer der anvisierten Generation heraus (die selbstredend „Männer“ bleiben und nicht Jungs genannt werden), sondern auch die Frauen. Dass zum anderen das unterstützenswerte Anderthalb-Modell, wie Bude argumentiert, „Normalität“ sei, ist sicher richtig. Doch muss sich die soziologische und politische Fantasie – bei allem notwendigen Pragmatismus und Realitätssinn – auf die Verdoppelung dieser selbst beschränken? Wie wäre es stattdessen, den Blick der Öffentlichkeit auf beispielsweise zwei mal „Dreiviertel“ (gibt ja auch „Anderthalb“) zu richten? Das ist alles andere als eine Frage der Arithmetik. Es gibt für das politische Denken wohl kaum eine größere Herausforderung als die schwierige Balance von sozialem Wirklichkeitsbezug und der Entfaltung von Handlungsalternativen – warum bloß sollte dieses Niveau unterschritten und zur einseitigen Unverfügbarkeit gesellschaftlicher Routinen hin aufgelöst werden? Visionär ist das nicht, vermutlich nicht mal realistisch.

Zweitens leuchtet die aufgemachte Rechnung, dass mehr Förderung der Kinderbetreuung unvermeidbar ein Weniger an Sozialhilfe bedeute, nicht ein. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: An der richtungweisenden Idee einer Stärkung der familienergänzenden Infrastrukturen gibt es nichts zu rütteln, daran kommt inzwischen selbst in Deutschland niemand mehr vorbei. Und dass für alles nie Geld da ist, ist eine Binsenweisheit. Zu hinterfragen ist und bleibt jedoch, warum es ausgerechnet die Sozialhilfe, also die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Unterstützung in existenziellen Notlagen sein muss, die zu beschneiden ist – ein Vorschlag, der übrigens auch in linken Kreisen, sofern sie entsprechend saturiert sind, durchaus salonfähig ist; man ist ja heute selbst als Rufer in der Wüste nicht mehr so richtig allein. Doch unbenommen dessen: Es geht nicht um linken oder rechten Populismus – wohin das objektiv ganz und gar nichts sagende Argument der leeren Kassen, ausgespielt gegen allzu platte Umverteilungsrhetorik in seiner Konfliktlogik und -dynamik, fast immer führt.

Daher sollte auf einer anderen Ebene an Folgendes erinnert werden: Die solidarische Unterstützung der nicht so leistungsstarken und leistungsfähigen Mitglieder einer Gesellschaft (etwa Grund- oder Existenzsicherung) ist keine willfährige Gnade und auch kein Luxusprodukt ökonomisch übersättigter Zeiten. Sie ist ein von Vernunft getragenes Anrecht, und sie gehört genau zu jenen wohlfahrtsstaatlichen Elementen, die aus guten Gründen schützenswert sind. Der Brite Thomas H. Marshall nannte solche Anrechte in den 50er-Jahren Bürgerrechte, und diese haben sehr viel sowohl mit Integration als auch mit Freiheit, mit Vorstellungen von personaler Integrität und Würde und auch mit Respekt vor dem anderen zu tun.

Über Ausgestaltung und Umsetzung dieses Anrechts muss man reden können, sicher. Die Entgegensetzung von (individualistisch orientierter) Sozialhilfe und (gemeinschaftsbezogener) Kinderbetreuung ist – wenn man gewillt ist, im Bezugsrahmen von Bürgerrechten zu denken – freilich eine falsche und höchst ideologieanfällige Alternative. Dies gilt des Weiteren auch für die im Interview allgemeiner aufgemachte Opposition von integrationsorientierter Wohlfahrtsstaatlichkeit einerseits, Freiheit/Entscheidung/Verantwortung andererseits, die doch erhebliche Schräglagen hat.

Damit ist ein dritter Punkt angesprochen: Dass sozialstaatliche Leistungen neben integrativen Wirkungen ein Moment der Freiheit beinhalten und dass – auch politische – Freiheit ohne soziale Rechte an Substanz entbehrt, setzt notwendig eine individuumszentrierte Logik voraus. Sie kann nicht durch Gemeinschaftlichkeit ersetzt werden und ermöglicht es schlicht, auch dann aus gemeinschaftlich-familiären Zusammenhängen der Daseinsvorsorge auszusteigen, wenn man sich nicht selbst ernähren kann, wenn man unzumutbaren familiären Verhältnissen entkommen muss und will oder Schutz außerhalb der Familie braucht. Historisch, sozial- und geschlechterpolitisch ist dies keine schlechte Errungenschaft moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit, schon gar nicht, siehe oben, aus „Mädel“-Sicht.

Das „Anderthalb-Personen-Modell“ist so geschlechtsblind, dass man es kaum glauben möchte

Es besteht keine Not, das gute Kind sozialer und verantwortungsbewusster Solidarität mit dem abgestandenen Badewasser eines institutionell und kulturell ramponierten „Klassenkompromisses“ auszuschütten. Für dieses bundesrepublikanische und in der Tat relativ erfolgreiche Konsens- und Konfliktbefriedungsmodell spielten übrigens weder Frauen noch Kinder noch die Kategorie der so genannten „Überflüssigen“ eine Rolle. Aber das weiß Bude ja.

ANGELIKA POFERL