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Archiv-Artikel

Chromosomen der Hoffnung

Ein Mann wird als Vergewaltiger verurteilt, erzwingt einen neuen Gen-Test und ein neues Verfahren – und verliert

MÜNCHEN taz ■ Am Anfang war es ein Verfahren wie viele. Das Münchener Landgericht verurteilte Thilo G., seine Lebensgefährtin vergewaltigt zu haben. Dann aber lässt der Mann aus der Haft heraus ein DNA-Gutachten erstellen, das seine Unschuld beweisen könnte – und erreicht etwas höchst Seltenes: Das Gericht hebt im November 2003 das Urteil auf und setzt Thilo G. erst einmal auf freien Fuß. Seit einigen Monaten wird der Fall vor dem Münchener Landgericht erneut verhandelt, gestern erging das Urteil: Thilo G. muss wieder hinter Gitter, die Richter sehen seine Schuld als erwiesen an.

Der Mann soll seine Lebensgefährtin im April 2001 in der gemeinsamen Wohnung im Starnberger Vorort Pöcking vergewaltigt haben. Dafür steht er erstmals November 2001 vor Gericht. Thilo G. leugnet die Tat, das Gericht aber glaubt der Frau und verurteilt den Mann in diesem ersten Verfahren zu fünf Jahren und neun Monaten Haft. Dabei hatte eine genetische Analyse am Münchener Institut für Rechtsmedizin „keinerlei Hinweis auf das Vorliegen von biologischem Material einer männlichen Person“ im Scheidenabstrich ergeben. Selbst unter den Fingernägeln des Beschuldigten finden die Mediziner lediglich DNA-Muster einer männlichen Person. In den Aussagen der Frau war jedoch von massiven Handgreiflichkeiten die Rede. Hätte sich dann nicht Haut des Opfers unter den Fingernägeln des Angeklagten finden müssen?

Richter und Schöffen am Münchner Landgericht zweifeln, doch glauben sie am Ende den Aussagen der Frau. Wohl auch deshalb, weil Thilo G. an jenem Abend stark betrunken war.

Nach zwei Jahren Haft gelingt es Thilo G., eine zweite DNA-Analyse des Abstrichs zu erzwingen. Diesmal finden die Mediziner männliche Chromosomen. Allerdings stimmt das DNA-Profil nicht mit dem Gentyp des Verdächtigen überein.

Für die Justiz waren die neuen genetischen Fakten Grund genug, den Fall erneut zu verhandeln. Im November 2003 wird das Verfahren vor der zehnten Strafkammer des Münchener Landgerichts eröffnet. Noch einmal werden Zeugen, Gutachter und Psychologen vernommen,es wird gekämpft, gestritten, geheult. Die Frau bleibt bei ihrer Aussage, der Mann leugnet die Tat nach wie vor. Der Angeklagte klammert sich vor allem an das DNA-Gutachten.

Staatsanwaltschaft, Schöffen und Richter sind dennoch überzeugt, dass Thilo G. seine Lebensgefährtin vergewaltigt habe. Die Zeugin habe die Tat glaubwürdig geschildert, begründete der Vorsitzende Richter Bertram Fiedler gestern das Urteil der zehnten Strafkammer, die Thilo G. zu einer Haftstrafe von vier Jahren und fünf Monaten verurteilte.

Wie es zu den fragwürdigen Ergebnissen gekommen sei, sagte der Vorsitzende Richter Fiedler in seiner Urteilsbegründung, sei „letztlich nicht eindeutig erklärbar“. Vermutlich seien die Genproben auf dem Weg zwischen den gerichtsmedizinischen Institutionen kontaminiert worden. Das Gericht halte es aber auch für nicht abwegig, dass der Angeklagte neben der Beziehung sexuellen Kontakt mit einer anderen Frau gehabt habe, die wiederum Geschlechtsverkehr mit einem fremden Mann hatte. Dies könne die fremden männlichen Chromosomen erklären.

SABINA GRIFFITH