Eine Stadt aus Stahl und Blut

Salzgitter: Vor 65 Jahren gingen hier die ersten Hochöfen in Betrieb. Hitlers Generalfeldmarschall Hermann Göring wollte sich mit der nationalsozialistischen Musterstadt ein Denkmal setzen

Von Kai Schöneberg

Der Generalfeldmarschall hatte persönlich dafür gesorgt, dass sein Name auf allen Bauplänen verewigt war. Doch der Führer mochte die Bezeichnung „Hermann-Göring-Stadt“ nicht. Mit den Worten „Wie können wir eine Stadt nach jemandem benennen, der es nicht schafft, Städte vor Bomben zu schützen?“, soll Adolf Hitler seinem Luftwaffenchef einen dicken Strich durch die Ver-ewigungs-Rechnung gemacht haben. Basta: Die nationalsozialistische Musterstadt zwischen Braunschweig und Harz sollte Watenstedt-Salzgitter heißen.

1939, vor genau 65 Jahren, kochten hier die Hochöfen den ersten Salzgitter-Stahl – eines der größten Projekte der deutschen Industriegeschichte begann. Die heutige Salzgitter AG bringt es auf acht Millionen Tonnen Rohstahl im Jahr. Damals entwarfen 120 Ingenieure in Windeseile ein gigantisches Hüttenwerk, das in der letzten Ausbaustufe 1946 vier Millionen Tonnen erzeugen sollte. Doch dazu kam es nicht.

Das „Volk ohne Raum“ hatte sich auch als „Volk ohne Rohstoffe“ gesehen. Deshalb wurden die Pläne für ein „neues Lothringen“ im nördlichen Harzvorland blitzschnell umgesetzt, nachdem Hitler 1936 verfügt hatte, dass Industrie und Wehrmacht binnen vier Jahren kriegsbereit zu sein hätten. Als Verantwortlicher für den „Vier-Jahres-Plan“ firmierte Generalfeldmarschall Hermann Göring, der schnell ein Auge auf das größte Erzvorkommen in Deutschland warf. Erst in den zwanziger Jahren war herausgefunden worden, wie sich aus den extrem säurehaltigen Erzen der Region Eisen für Kanonen schmieden ließ. Göring zögerte nicht lang. Am 15. Juli 1937 gründete er die „Reichswerke Hermann Göring“ im Ratskeller von Salzgitter – in der Firmendarstellung der heutigen Salzgitter AG heißt es dazu schlicht: „Beginn des Aufbaus des Hüttenwerkes Salzgitter“.

Der Anfang einer langen Leidensgeschichte. Bauern der agrarischen Gegend wurden enteignet. Ab 1939 zog das Reich auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zum Schuften heran. Vier KZ-Außenstellen wurden hochgezogen, berüchtigt ist das Sonderlager 21, das der Gestapo als „Erziehungsinstrument zur Erhaltung der Arbeitsdisziplin“ unterstand. Über 3.500 Tote sind registriert. Salzgitter, die Stadt aus Stahl und Blut.

Die Reichswerke wurden immer mächtiger. Nach der Besetzung Österreichs im März 1938 schluckten sie die „Alpine Montangesellschaft“ in Linz, später weitere Werke in Polen – ein Mammutunternehmen unter dem direkten Einfluss Görings war entstanden.

Auch Salzgitter, eine Retortenstadt aus 30 Dörfern, wuchs stetig. Hatten in der Mitte der dreißiger Jahre noch 20.000 Menschen in der Region gewohnt, waren es 1942, dem Jahr der Stadtgründung, schon 110.000. Während die meisten Arbeiter noch in Baracken wohnten, präsentierte Herbert Rimpl, einer der Architekten, der auch in der Nazizeit die Tradition der Moderne fortführte, seine Vision für die neue Stadt auf der grünen Wiese, die einst mit Hannover und Braunschweig um den Titel „Gauhauptstadt für das südliche Niedersachsen“ konkurrien sollte. Von Wolfsburg, der 1938 gegründeten „Kraft durch Freude“-Stadt des Volkswagens, war damals keine Rede.

Zunächst war das Salzgitter-Gebilde auf 130.000 Einwohner ausgelegt: Eine pilzförmig angelegte Gartencity mit höchstens dreigeschossiger Wohnbebauung, die von einer Schnellbahn umfahren werden sollte, die von allen Einwohnern in fünf Minuten zu Fuß erreicht werden konnte. Mittendrin: der typische architektonische Nazi-Wahn. Eine Ost-West-Achse, eine 220 mal 220 Meter große Volkshalle, eine Stadthalle, ein Theater. Sogar die Berguniversität sollte aus Clausthal-Zellerfeld nach Salzgitter verlegt werden. Natürlich waren große Aufmarschplätze geplant. So große, dass die Nachkriegspolitiker sich darauf einigten, ein Salzgitter ohne Plätze zu errichten.

Der Wahn währte nicht lange. Göring stoppte den Bau, als die Zeiten des Erzmangels durch die Eroberung Lothringens, Luxemburgs und Südbelgiens vorbei waren. Die Lage verlange die „Konzentration aller Kräfte auf den Endsieg“. So blieben viele Straßen ohne Asphalt, Fußwege unbefestigt, Infrastruktur bis auf sechs Schulen Fehlanzeige. Immerhin wurde Salzgitter im Krieg nicht stark durch Luftangriffe beschädigt.

Vergleiche: Jörg Leuschner: Salzgitter - Die Entstehung einer nationalsozialistischen Neustadt von 1937 - 1942, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, Band 65.