: Fernsicht auf das Paradies
Die neue Staffel von „Big Brother“ gibt sich sozialdarwinistisch. Damit die Zuschauer das auch merken, plakatiert RTL 2 die Republik mit Kampfansagen an die letzten Refugien der Ideologie
VON TOBIAS MOORSTEDT
Manchmal in diesen Tagen scheint es so, als habe Marx gar nicht verloren und die Revolution sei nicht vorbei. Rote Fahnen, die heute Plakate heißen, machen die Fußgängerzone zur Paradestraße der Arbeiterbewegung. „Opium fürs Volk“, steht auf den Plakaten. Wie wahr, denkt sich der Passant, immer noch eine zeitgemäße Warnung, im Zeitalter der neuen Fanatiker, die man aus der „Tagesschau“ kennt. Was Marx mal meinte: Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
Aber es ist nicht Marx, es ist nur sein postmodernes Gespenst. Die roten Plakate sind Teil der Werbekampagne für die Sendung „Big Brother“. Noch einmal bedient sich der zuständige Privatsender RTL 2 der Gesellschaftskritik und zitiert nach Orwell nun auch Marx. Der große Bruder verschenkt Opium ans Volk. Der große Deal: Unterhaltung ist Religion, Religion ist Unterhaltung, Gott wohnt in der Fernbedienung. TV-Shows, das geben die Medienkonzerne gerne zu, funktionieren wie das Mohngewächs Papaver somniverum, sie haben eine berauschende Wirkung und erlauben den Bedrängten und Unterdrückten eine vermeintliche Fernsicht auf das Paradies, das heute Star-Sein heißt. So ist das halt, sagen die roten Plakate, und man glaubt ein hämisches Kichern zu hören.
Der Fernsehschurke Big Brother hatte zuletzt deutlich an Schreckpotenzial verloren, ist geschrumpft, alltäglich geworden und zum neugierigen Nachbarn verkommen. Um den öffentlichen Aufschrei, der ja im Drehbuch steht, trotzdem noch zu vernehmen, legt sich der Sender in der Reklame mit den letzten ideologischen Organisationen an, indem die jeweiligen Werte und Parolen veräppelt werden: Kirche, Sport und der kleine Rest der Linken. „Opium fürs Volk“, „Liebe deinen Nächsten“ und es gibt auch kein „Fair Play“. Nicht mehr das Produkt verstößt gegen Normen, die sich ja ständig erweitern und bald alles zulassen, sondern die Werbeslogans dafür. Die Aussage: Wir sind schlecht für euch, es ist unfair und die Aussage des Erlösers nehmen wir auch nicht mehr ernst. Liebt uns trotzdem!
Unterhaltung ist eine Droge. Das ist eine Warnung, die sicher nicht gehört werden wird. Jeder weiß es und niemand will es wahrhaben. Es ist wie bei den Warnaufdrucken auf Zigarettenschachteln. Sätze wie „Rauchen ist schlecht für die Spermatozoten“ werden schnell mit Scherzen wie „Meinem Sperma kann keiner was“ übermalt. Für das ironische Publikum ist der beste Werbegag das Eingeständnis der Schädlichkeit des Konsums. Diese Wurst macht fett und hässlich. Dieses Programm macht dumm und abhängig. Na und? No risk, no fun. Man ist informiert und entscheidet sich für das Schlechte, darauf hat sich das Versprechen der Freiheit reduziert.
„Opium fürs Volk“! Es ist eine Werbekampagne für die Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen, die verstanden haben, dass es auch Falsches im Falschen nicht mehr gibt. Normen, Tabus und Pietät sind potenzielle Pointen, weil sie langweilig sind und auch nicht weiterhelfen. Die Kandidaten nehmen in der Reality-TV-Show die Enge und die Zumutungen des zukünftigen Arbeitsmarktes schon einmal vorweg, während das Publikum draußen vielleicht noch einen Schritt weitergeht und versucht, sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu machen: Der moderne Konsument muss dahin gehen, wo es wehtut. Opium ist eine tückische Droge, sie beschert bunte Träume und einen späten Tod, die Vergiftung führt zu einer Darmlähmung. Der Mensch wird langsam aufgezehrt.
Der Zigarettenkonzern Lucky Strike stand vor einigen Monaten, als die Warnhinweise auf den Packungen noch neu und ungewohnt waren, vor der Frage, wie die Produktinformation in Traueranzeigenformat in das Werbekonzept zu integrieren sei. Man entschied sich für die ehrliche Variante: „Rauchen ist tödlich“, stand auf jeder Schachtel in der nächsten Anzeige, und, ja, vor dem Hintergrundlampen der Bushaltestellen formten die Schachteln ein Kreuz, ein weißes Kruzifix. Für einen Augenblick dachte man damals, Gott sei in die Stadt zurückgekehrt, aber es war nur der Tod.