: Ins Netz statt ins Blatt
Auf www.nicht-erschienen.de können Journalisten ihre unveröffentlichten Texte hochladen. Gut geschrieben und recherchiert sollten sie sein, denn als Resterampe ist die Website nicht gedacht
VON DOMINIK SCHOTTNER
Das Interview mit dem kanadischen Regisseur Jason Reitman, der im Jahr 2006 mit dem Film „Thank you for smoking“ bekannt wurde, ist wahrlich nicht schlecht. Okay, ein Stück wie das furiose Lemmy-Kilmister-Interview in der Süddeutschen vor ein paar Wochen ist es nicht, keines an das man sich noch Monate später erinnert. Aber eines, das man gerne gelesen hätte, ohne danach denken zu müssen, man hätte Zeit vergeudet. Ein Lesestück eben, das streckenweise recht amüsant gerät, zum Beispiel an der Stelle, wo die Interviewerin Reitman fragt, ob er wirklich Angst vor Sex habe, und Reitman antwortet: „Nein, und auch nicht vor nackten Brüsten.“
Das Blöde ist nur: Bis vor Kurzem konnte man das Interview nicht lesen, außer man hätte Zugriff auf den Computer der Spiegel- und SZ-Autorin Tanja Schwarzenbach gehabt. Dort schlummerte das von der Münchner Journalistin geführte Interview seit Juli 2006. Lediglich eine magere Antwort daraus floss in einen späteren Artikel Schwarzenbachs ein. Das war’s.
Das war’s dann aber doch nicht. Vor rund einem Monat schaltete die 33 Jahre junge Münchnerin die Internetseite www.nicht-erschienen.de frei und damit irgendwie auch den Zugang zu ihrer Festplatte: Dort habe sie „doch den ein oder anderen guten Text rumliegen“. Eine klassische Lukas-Podolski-Situation, aus der man nur rauskommt, wenn man sich bewegt. Tanja Schwarzenbach ging ins Internet und publizierte dort auf www.nicht-erschienen.de das Reitman-Interview, nebst einiger anderer ihrer Texte „von der Halde“, wie das Abstellgleis für nicht publizierte Texte im Journalistenjargon heißt. Nicht-erschienen.de ist nun der Name des Ortes, in dem JournalistInnen diese Texte in Warteschleifen, freilich ohne Bezahlung, publizieren können. Auch Fotografen, deren Oeuvre weniger bekannt ist, bietet die Seite einen wohligen Zweitwohnsitz.
„Der Auslöser für das Projekt“, erklärt Schwarzenbach, „war ein Text über eine Ausstellung. Als die Redaktion ihn drucken wollte, war der Anlass aber schon vorbei. Der Text wurde nicht gedruckt und ich erhielt ein Ausfallhonorar.“ Weil sie den Artikel somit nicht an ein anderes Medium verkaufen konnte und „ihn auch zu gut fand, um ihn verstauben zu lassen“, entschied sich Schwarzenbach für das Projekt. Die Journalistin, die bei der SZ volontiert hat und derzeit mit einer Arbeit über das künstlerische Verhältnis von Annie Leibovitz und Susan Sontag promoviert, will ihre Website jedoch nicht als Resterampe verstanden wissen: „Primär geht es um gute, lesbare Texte. Ich will nicht so viel redigieren müssen.“ Deswegen auch die auf der Website formulierte Bitte an die Texte einreichenden Kollegen: „Der Artikel sollte nach Möglichkeit in druckreifem Zustand sein. Angenommen werden nur Texte erfahrener/ausgebildeter Journalisten und Redakteure.“
Ein Blick in die ungezählten Journalistenblogs und Onlinemagazine genügt, um Schwarzenbachs Vorsicht zu verstehen. Das Internet wimmelt vor halbgaren Artikeln und schlicht nicht oder schlecht recherchierten Geschichten. Beides, Wimmeln und fehlende Qualität, sollen das Projekt nicht kennzeichnen, dafür Bündelung und Qualitätsjournalismus. Die Website selbst wirkt, wie man sagt, aufgeräumt, lädt schnell und zum Verweilen ein. Allen Artikeln werden jeweils kleine Randnotizen, wie auf dem Notizblock eines Journalisten, für Links, Daten und andere Zusatzinformationen zur Seite gestellt. Eine Kommentarfunktion sowie eine vierte Rubrik neben Politik, Kultur und Leben, sagt Schwarzenbach, könne sie sich gut vorstellen, eventuell sogar als Raum für kleine Video- oder Audiobeiträge. Die müssen dann natürlich richtig gut sein, da ihre Bearbeitung wesentlich mehr Zeit in Anspruch nimmt als das Redigieren eines Textes.
Freilich stellt sich dann die Frage: Wieso sind sie nicht erschienen, die Beiträge? Fragen kann man sich ferner, ob der Marktwert eines Journalisten sinkt, wenn er auf der Seite zu viel publiziert? Oder ob es nicht vielleicht zum Journalistenberuf dazugehört, einmal nicht gedruckt oder gesendet zu werden? Ein geflügeltes Wort im Redaktionsalltag lautet: „Schön, dass wir es im Blatt hatten.“ Über die Texte auf nicht-erschienen.de kann man das nun auch sagen.