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Archiv-Artikel

Der hilfsbereite, sanfte Don Ernesto

In Graz, der zweitgrößten Stadt Österreichs, bestimmt ein Kommunist mit, was Sache ist: Ernest Kaltenegger respektieren selbst Bürgerliche, denn er ist keiner vom Typus Apparatschik. Von Wahl zu Wahl wird er populärer – weil er den kleinen Leuten hilft, notfalls auch mit Geld aus der eigenen Tasche

AUS GRAZ JENS KÖNIG

Kommunismus kann ganz einfach sein. Kinderleicht.

Ernest Kaltenegger verdient 4.553 Euro und 29 Cent im Monat, netto. Mit Sonderzahlungen kommt er viermal im Jahr sogar auf 8.117 Euro. Sechzig Prozent seines Gehalts gibt Kaltenegger ab, Monat für Monat, Jahr für Jahr, tausende und abertausende Euro. Er verschenkt sie an Arme, Arbeitslose, Studenten, Alte, Wohnungssuchende. An alle, die zu ihm kommen und etwas brauchen.

Kaltenegger macht das seit 23 Jahren so. 1981 ist er in den Gemeinderat von Graz gewählt worden. Seit 1998 sitzt er im Stadtrat. Am Anfang, als er bei seiner Partei noch fest angestellt war, hat er sogar jeden einzelnen Schilling seiner Diäten abgegeben. Einmal im Jahr veranstaltet Kaltenegger einen Tag des offenen Kontos. Da kann jeder Bürger in sein Büro kommen und überprüfen, was mit dem Geld passiert ist. Jeder Cent seines Gehalts, den Kaltenegger verschenkt hat, ist penibel in einem grünen DIN-A4-Buch verzeichnet. „Richard Edelsbrunner. Heizkostenzuschuss. 100,00 Euro“, steht dann da, oder „Luise Steiner. Braucht dringend einen neuen Kühlschrank. 350,00 Euro“.

Über zwanzig Jahre Dienst an der Gesellschaft – das hat Kaltenegger fünf Millionen Schilling gekostet, rund 350.000 Euro.

Gekostet? „Ich betrachte das nicht als Geld, das mir gehört“, sagt er. „Ich verwalte es nur.“

Ernest Kaltenegger ist Kommunist. Sein Politikergehalt behandelt er wie Volkseigentum.

Sieht man die komplizierte Welt mit seinen Augen, wird sie für ein paar Momente wieder übersichtlich. Einer gibt, einer nimmt. „Das ist eine mir mögliche Form der Umverteilung an die Menschen, die das Geld dringend brauchen“, sagt Kaltenegger.

Wenn der Kommunismus so barmherzig und selbstlos daherkommt, hat natürlich keiner mehr Angst vor ihm. Da fragt man sich höchstens, ob Ernest Kaltenegger noch von dieser Welt ist. Andererseits: Was ist das für ein Kommunismus, den die Bourgeoisie nicht fürchtet und vor dem das Kapital nicht zittert? „Kaltenegger?“, sagen sie in Graz, „das ist doch der, der sein ganzes Geld verschenkt.“

Die Bürger der Stadt brauchten allerdings eine Weile, bis sie verstanden hatten, dass Kommunismus kinderleicht sein kann. Und die Kommunisten gaben den Bürgern reichlich Zeit, das zu verstehen. Sie brauchten die Zeit ja selber.

1981 gewinnt die Kommunistische Partei Österreichs in Graz ein paar hundert Stimmen und bei eins Komma noch was Prozent einen Sitz im Gemeinderat. Den bekommt Kaltenegger. Und der sucht sich eine Nische. Er setzt sich für die Rechte der Mieter ein. Von seinen Diäten bezahlt die KPÖ einen Mieternotruf. 1993 erringt die Partei einen zweiten Sitz im Gemeinderat. Kaltenegger verschenkt weiter sein Geld. Die KPÖ gründet einen Rechtshilfefonds für Spekulantenopfer und organisiert Mieterstreiks. Der Wohnungsstadtrat von der konservativen ÖVP schickt die meisten Bürger, die sich beschweren wollen, gleich zu Kaltenegger. „Leute, ich komme aus einer Hausbesitzerpartei“, sagt er zu ihnen. „Gehts zum Kommunisten, der versteht euch besser.“

Die Zeitungen schrieben, Graz sei das Pjöngjang Europas

1998 gewinnen die Kommunisten achttausend Stimmen, acht Prozent und einen Sitz im Stadtrat – ihren ersten in Österreich überhaupt. Kaltenegger natürlich. Er schlägt als Erstes vor, die Posten im Stadtrat von neun auf sieben zu reduzieren. Das hätte die KPÖ den Platz gekostet. Der Antrag wird abgelehnt. Kaltenegger wird, was sonst, Stadtrat für Wohnungsfragen. Ihm unterstehen jetzt 11.000 Gemeindewohnungen.

Kaltenegger kümmert sich weiter nur um ein einziges Thema – nicht um den Kommunismus, sondern um die Wohnungsprobleme der Bürger. Mit einer Volksabstimmung setzt er durch, dass jeder Grazer in einer städtischen Wohnung höchstens ein Drittel seines Einkommens für Miete ausgeben muss. Im Januar 2003 gelingt der KPÖ, die in Österreich sonst bei 0,5 Prozent herumdümpelt, in der Landeshauptstadt Graz dann die Sensation: Sie gewinnt 22.000 Stimmen, also 20,9 Prozent und zwei Sitze im Stadtrat. Drittstärkste Partei hinter der ÖVP und den Sozialdemokraten. Stärker als Haiders FPÖ!

Plötzlich scheint der Kommunismus wieder so, wie er immer war: böse, aggressiv und hässlich. Breschnew, Honecker und Stacheldraht. Die ersten Zeitungen schreiben, Graz sei jetzt das Pjöngjang Europas. Sogar das Kapital zittert ein bisschen. Kaltenegger wird zum Amischreck. Unternehmer aus Chicago erkundigen sich bei der steierischen Industriellenvereinigung, ob dieser Kommunist Investitionen verhindern wolle.

Jessas, antworten die meisten in Graz. Kaltenegger und Stacheldraht? Verschonts uns damit! Sie erinnern sich wieder, dass Kaltenegger nicht von dieser Welt ist. Nennen sie ihn nicht seit Jahren „Engel der Mieter“? Und steht KPÖ in Wirklichkeit nicht für „Kaltenegger Partei Österreichs“? Selbst die Kronen-Zeitung, in Österreich mächtiger als Bild in Deutschland, verteidigt Kaltenegger. „Ist dieser Kommunist ein politischer Wolf im Schafspelz?“, fragt sie scheinheilig, um dann von seiner Bürgernähe zu schwärmen und am Ende kitschig zu werden: „Kann einer, den sie ‚Engel‘ nennen, Kommunist sein?“

Ist dort, wo es Engel gibt, nicht alles möglich? „Ich habe nie verheimlicht, dass ich Kommunist bin“, sagt Kaltenegger. Er ist als uneheliches Kind einer einfachen Frau in der Obersteiermark groß geworden. Mit der Mutter und fünf Geschwistern lebte er in einer Einzimmerwohnung. Sein Großvater war Holzknecht und im Winter immer arbeitslos. „Wir waren ganz unten, da wird man automatisch links“, behauptet Kaltenegger. Zuerst hat er sich bei der SPÖ umgetan, aber die habe einfach nie gehalten, was sie versprochen hatte. Die Kommunisten jedoch, die seien in den Betrieben oft benachteiligt worden. Und sie hätten als Einzige keine Privilegien gehabt. Seitdem funktioniert für Kaltenegger Politik nach einer simplen Regel: „Was du von den Bürgern verlangst, das musst du dir auch selbst zumuten.“

Kaltenegger lebt davon, dass er die Leute bis heute irritiert. Er ist einer, der sich um die alltäglichen Nöte der Menschen kümmert, obwohl er Kommunist ist. Sie wählen ihn, selbst in bürgerlichen Bezirken, weil es a bisserl aufregend, aber auch ungefährlich ist. Ihnen gefällt, dass der Engel nicht im Mercedes, sondern in einem alten Skoda durch die Lande fliegt. Mit Kaltenegger ist der Kommunismus harmlos geworden.

Kein Ernesto Che Guevara sitzt in Zimmer 236 im Grazer Rathaus, sondern ein sanfter Don Ernesto. Er trägt ein braunes Jackett, darunter ein grünes Hemd und einen braunen Schlips. Auf seiner Nase liegt ruhig und schwer eine Kassenbrille. Ein Stirnband für seine Haare braucht er längst nicht mehr. Kaltenegger ist 54 Jahre alt. „Herr Stadtrat“, sagen die Bürger zu ihm, wenn sie den Raum betreten.

Es ist Dienstag. Bürgersprechstunde bei Kaltenegger. Zweimal in der Woche macht er das. Aber die Leute kommen ohnehin jeden Tag zu ihm. Seine Tür steht immer offen. Und längst geht es nicht mehr nur um Wohnungsfragen. Probleme mit dem Arbeitgeber, mit dem Ehemann, mit der Rente: „Es gibt kein Problem, das es nicht gibt“, sagt er.

Vor ihm sitzt Frau Nagl. 67 Jahre. Rentnerin. Sie hört schwer, sie braucht ein Hörgerät. „Ich weiß nicht, wie ich das bezahlen soll“, sagt sie. „Wie hoch ist Ihre Pension?“, fragt Kaltenegger. „663 Euro“, antwortet die Frau.

„Wie viel Miete?“ – „317 Euro.“

„Dann geben Sie mal Ihre Kontonummer.“ Kaltenegger wird das Hörgerät bezahlen, die ganzen 400 Euro.

Als Nächstes kommt Herr Osim. Dolmetscher für Russisch und Kroatisch. Seit zehn Jahren ohne Arbeit. Er erzählt Kaltenegger sein ganzes verpfuschtes Leben, geschlagene dreißig Minuten lang. Der Stadtrat hört geduldig zu. „Mit einer Arbeit kann ich Ihnen leider nicht helfen“, sagt er ganz ruhig. „Und eine billigere Wohnung?“, fragt Herr Osim schüchtern. Kaltenegger guckt in seinen Laptop. „Im Moment leider auch nicht.“

Herr Osim packt seine Unterlagen zurück in die Plastiktüte. „A bisserl was könnt ich Ihnen geben“, sagt Kaltenegger. Er notiert die Kontonummer. Er wird ihm 100 Euro überweisen. Für ihn ist das die simpelste Sache der Welt.

Das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wird man Kaltenegger später entgegnen. „So ist es“, wird er antworten.

Kaltenegger ist ein Kümmerer. Kein Volkstribun. Keiner, der große Politik machen will. Als SPÖ und Grüne der KPÖ eine Koalition anboten, lehnte er einfach ab. „Die Leute haben uns nicht gewählt, damit wir Privatisierungen zustimmen“, lautete sein kurzer Kommentar. Schon war die Sache mit dem Regieren erledigt. „Opposition ist auch wichtig“, findet Kaltenegger.

Er hat viel zu lange an den Staatssozialismus geglaubt

Sein Parteichef in Wien, Walter Baier, machte aus seinem Wahlerfolg in Graz gleich ein „europaweites Signal gegen den Neoliberalismus“. Kaltenegger hält das für Geschwätz. „Die KPÖ muss eine nützliche Partei sein“, sagt er, „eine, die den Menschen im Alltag hilft.“ Deshalb redet er nicht gern über Kommunismus. Das ist ihm ein paar Nummern zu groß. „Ein sehr fernes Ziel“, stammelt er nur. Ihn plagt immer noch das schlechte Gewissen, dass er so lange an den Staatssozialismus in Osteuropa geglaubt hat.

Dabei hätte er es besser wissen müssen. Die Kommunisten in der DDR haben ja nicht mal die simpelsten Dinge auf die Reihe gekriegt. 1985 haben sie bei „Jugendtourist“ zwei Reisegruppen durcheinander gebracht. Die „Politischen“, die eigentlich zum Pressefest der KPÖ-Zeitung nach Wien sollten, standen plötzlich etwas verloren auf dem Bach-Festival in Graz rum. Kaltenegger erkannte seine Gesinnungsgenossen aus der DDR sofort. Um ihre Hälse hingen klobige Praktika-Kameras. Eine Frau aus Potsdam gefiel ihm besonders gut. Er verliebte sich. Das war die simpelste Sache der Welt.

Ernest Kaltenegger ist bis heute mit dieser Frau verheiratet.