: Singen weckt auf
Wo Kinder erstmals Kinderlieder kennen lernen: An der Grundschule Appelhoff in Steilshoop singen 60 der 250 SchülerInnen freiwillig im Chor. Das zusätzliche Angebot läuft seit 15 Jahren erfolgreich
von PEGGY WOLF
Ranzen und Jacken landen auf Stühlen, was zählt, ist der Hefter mit den Liedtexten. Neun- bis elfjährige Mädchen und Jungen stellen sich auf – nebeneinander, bunt gemischt. Noch raschelt es überall, nur langsam wird es still. Erwartungsvolle Augen auf ein Klavier gerichtet. Der erste Ton. Jedes Kind kennt das Lied. Die Chorprobe an der Grundschule Appelhoff in Steilshoop hat begonnen.
„Die Kinder haben uns die Türen eingerannt“, sagt Schulleiterin Marie-Ann Kunze (58). „Sie wollten öfter singen, als es im Musikunterricht möglich war.“ Musiklehrerin Gudrun Adachi (56) organisierte den Chor und die Proben für 13 SchülerInnen. Das ist 15 Jahre her.
Heute treffen sich 60 der 250 Steilshooper GrundschülerInnen jeden Freitag für eine Stunde. Sie proben Aufritte im Einkaufszentrum, in der Schule. „Es geht vor allem um das Singen. Und die Kinder lernen gemeinsam, auf ein Ziel hinzuarbeiten, sich zu konzentrieren und durchzuhalten. Im Musikunterricht können wir das nicht erreichen“, erklärt Kunze.
Laut Lehrplan sind für die erste bis vierte Klassenstufe wöchentlich zwei Stunden Musik vorgesehen. „Zu wenig“, meint die musikbegeisterte Schulleiterin. „Mindestens eine Stunde mehr. Musik ist wichtig, auch Sport, Malen oder Schulgärtnern.“
Erleben unsere Kinder zu wenig? „Ja, sie sind an allem nur beteiligt, sehen, hören zu, sind ständig überfordert. Radio, Fernsehen – viele Stunden am Tag. Sie machen nichts mit ihren Händen, ihren Köpfen, fühlen sich nutzlos“, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin ihre Erkenntnisse aus fast 35 Jahren im Schul- dienst. „Singen schafft Erlebnisse, weckt die Phantasie der Kinder. Sie lernen ihre eigenen Grenzen, die ihrer Kameraden kennen und tolerieren und haben Spaß am gemeinschaftlichen Erfolgserlebnis.“
Doch nicht nur die Behörde für Bildung und Sport scheint das zu übersehen. Auch Eltern können sich oftmals nicht genug Zeit für ihre Kinder nehmen und sie ausreichend anleiten. In der Zeit von 8 bis 13 Uhr müssen nach Vorgabe der Schulbehörde alle Fächer unterrichtet sein. „Die Kinder sollen lesen, schreiben und rechnen können, mehr nicht. Eltern und Behörde sind sich da leider einig“, resümiert Kunze.
Musikunterricht hat kein Image, gilt als Vergnügen. Es mangelt an Geld für Unter-richtsmittel und an ausgebilde-ten Fachkräften. Wenige Päda-gogik-StudentInnen scheinen sich für das Fach Musik an der Grundschule zu entscheiden, denn zum Universitätsstudium Pädagogik gehört ein zusätzliches Studium an der Musikhochschule. Mindestens ein Instrument muss perfekt beherrscht werden. Wer das kann, unterricht an Realschulen oder Gymnasien, wird freier Musiker oder Privatlehrer.
Volks- oder Kinderlieder, wie „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ oder „Hänschen klein“ sind jedem Erwachsenen bekannt. Die Kinder heute lernen sie nur, wenn sich ein Lehrer dafür engagiert. Moderne Lieder kennen die Kinder von Kassetten, singen können sie diese in der Regel nicht. Laut Vorgabe der Schulbehörde sollten Kinder der vierten Klasse beispielsweise drei Komponisten kennen sowie Noten und Partituren lesen können. Kunze findet „das alles so theoretisch. Musik ist gefühlvoll. Etwas, das Kinder erleben lernen müssen.“
Die Kinder des Chores sind voll bei der Sache. Jeder Ton wird einzeln geübt. Den Text haben Musiklehrerin Adachi und Schulleiterin Kunze erklärt. Die Kinder singen wieder und wieder das plattdeutsche Tanzlied „Wenn hie en Pott mit Bohnen steiht und dor en Pott mit Brie“. Die Chorprobe ist eigentlich schon längst beendet. Aufhören will keiner.