: „Es klingt wie das Letzte, ist es aber nicht“
Nach dem Krieg vergewaltigten russische Soldaten abertausende Frauen in Deutschland. Eine Anonyma erzählt davon im lakonischen Ton der Dietrich
von RENÉE ZUCKER
Kaum zu glauben, wie lange wir auf all diese hervorragenden, erschütternden und tragikomischen Bücher über die Zeit zwischen 1939 und 1947 warten mussten. Seit Mitte der Neunzigerjahre werden sie nach und nach veröffentlicht, die guten Augenzeugenberichte – sei es Margret Bovaris „Tage des Überlebens“, Saul Padovers „Lügendetektor, Vernehmungen im besiegten Deutschland“ oder Steffen Radlmeiers „Nürnberger Lernprozess“. Allen voran erscheint nun dieses großartige Buch, dessen Verfasserin wir noch nicht einmal ehrende Blumen auf das Grab legen können, weil sie sich entschlossen hat, bis über den Tod hinaus anonym zu bleiben.
Einst zog sie durch Europa, zeichnete, fotografierte, studierte. Gebildet, sprachbegabt und gutbürgerlich, wie sie war, stand ihr die Welt offen. So schreibt sie zumindest von sich. Dann kam der Krieg. Was sie zwischen 1939 und 1944 gemacht hat, erfahren wir nicht. Im letzten Kriegsjahr soll sie einen Auftrag in Berlin angenommen haben. Zu der Zeit muss sie um die dreißig Jahre alt gewesen sein.
Der Schriftsteller Kurt Marek, Generationen geplagter Bildungsbürgerkinder auch als C. W. Ceram von „Götter, Gräber und Gelehrte“ bekannt, kam 1946 nach Berlin, um vermisste Freunde zu suchen. Er traf dabei auch die Freundin eines Freundes. Sie erzählte ihm von ihrem Tagebuch aus den Wochen zwischen dem 20. April und dem 22. Juni 1945 – er darf es erst sehr viel später lesen, und noch viel später gibt sie ihm die Erlaubnis, es zu veröffentlichen. 1954 erscheinen diese Aufzeichnungen in einem New Yorker Verlag, danach in England, Holland, Schweden, Norwegen, Japan, Spanien, Frankreich. Eine deutschsprachige Ausgabe kommt nur in einem Schweizer Verlag heraus.
Die Filmemacherin Helke Sander war eine der ersten hierzulande, die sich des Schicksals der Frauen im Krieg, insbesondere in den letzten Kriegstagen und ersten Tagen der Nachkriegszeit annahm. In ihrem Film von 1992: „Be-Freier und Befreite“ machte sie auf die weithin tabuisierte Tatsache aufmerksam, dass Ende April 1945 in Berlin mindestens 100.000 Frauen und Mädchen von russischen Soldaten vergewaltigt wurden – über 40 Prozent von ihnen mehrfach.
Von solch einem Schicksal wird in diesem Buch berichtet mit einem atemstockend trockenen Humor, der einen abwechselnd lachen und einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Erzählt in einer Lakonie, dass man manchmal die preußisch disziplinierte Marlene Dietrich zu sehen und zu hören glaubt. Anonyma ist so klug wie lebenserfahren: „Keins der Opfer kann das Erlittene wie eine Dornenkrone tragen. Ich wenigstens hatte das Gefühl, dass mir da etwas geschah, was eine Rechnung ausglich“, soll sie 1947 gesagt haben. Ceram zitiert es in seinem Nachwort und bewundert, was so ungewöhnlich in diesen Jahren bei den Kriegsbeginnerverlierern war: inmitten der Unmenschlichkeit nach Gerechtigkeit zu fahnden.
Ein Russki „aufm Bauch“ sei „nicht so schlimm wie ’n Ami aufm Kopf“, sagt eine Frau, die bei einem Volltreffer mit anderen Hausbewohnern verschüttet war, und auch darin erkennen wir sie wieder, die kaltschnäuzige Berlinerin, wie wir sie immer wieder von der Dietrich, der Knef und auch von Grethe Weiser verkörpert sahen. Das ist so viel deutscher als Goethe und Wagner zusammen – zumindest bei den Frauen.
„Was heißt Schändung? Als ich das Wort zum ersten Mal laut aussprach, Freitagabend im Keller, lief es mir eisig den Rücken herunter. Jetzt kann ich es schon denken, schon hinschreiben, mit kalter Hand, ich spreche es vor mich hin, um mich an die Laute zu gewöhnen. Es klingt wie das Letzte, Äußerste, ist es aber nicht.“
Die Tagebuchschreiberin lebt in diesen Tagen in einer Art Wohngemeinschaft, die von den verschiedensten Russen frequentiert wird – schon deshalb, weil es keine Tür mehr gibt, die man schließen könnte, und weil man nicht hoch genug wohnt. Wer weiter oben lebt, hat Glück: Der Russe steigt nicht gerne Treppen … Sie lebt mit der so genannten Witwe und deren Untermieter Herrn Pauli, der vornehmlich kränkelt. Wie überhaupt die deutschen Männer nicht wirklich eine besonders herausragende Rolle in diesem Werk spielen. Wie hätten sie auch. Wenn sie überhaupt anwesend waren, mussten sie mit anschauen, wie ihre Frauen und Töchter belästigt, bedroht, verletzt und vergewaltigt wurden – entweder aus purer Triebhaftigkeit und Bösartigkeit der russischen Siegertruppen oder weil es dafür im besten Fall etwas zu essen gab, wovon dann der Mann auch etwas abbekam. Zudem wäre es ihm schlecht bekommen, wenn er versucht hätte, die Frau oder Tochter zu schützen.
Es sind furchtbare Geschichten, die hier erzählt werden, die uns noch einen ganz anderen Blick auf die Generation der so genannten Trümmerfrauen nahe legen. Denn für die gilt ja auch bis heute: „zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“ – wobei das nicht ausschließlich bewundernd, sondern auch Angst einflößend gemeint war. Was dieses Buch trotz seines wirklich unerträglichen Themas so lesenswert macht, ist die Unbestechlichkeit und die Unsentimentalität seiner Autorin. Sie weiß, dass der eigentliche Schrecken nicht in Worten vermittelbar ist, dass nur das sachliche, fast beiläufige Aufzählen einen Hauch jener Wahrheit vermitteln kann, die jahrzehntelang verschwiegen wurde. Und dass über jeder Wahrheit immer noch eine andere und eventuell sogar noch eine dritte liegt.
Diese Wahrheit ergibt sich möglicherweise aus einer Blickrichtung, dem Erzählstil, einer Einstellung zum Leben. Diese Berlinerin ist auf derart einzigartige Weise berlinisch, dass man richtig aufpassen muss, nicht so von ihr fasziniert zu sein, dass man übersieht, wovon sie eigentlich erzählt. Obwohl das wahrscheinlich zusammengehört: die Einzigartigkeit der Situation und das, was sie über sich hinauswachsen lässt.
Sie beharrt auf einer Erkenntnis, die sie „gegen alle Weltverbesserungspläne“ vorbringt: „Die Summe der Tränen bleibt konstant. Ganz gleich, unter welchen Fahnen und Formeln die Völker leben, ganz gleich, welchen Göttern sie anhängen und welchen Reallohn sie beziehen: die Summe der Tränen, der Schmerzen und Ängste, mit denen jeder für sein Dasein zahlt, bleibt konstant. Satte Völker suhlen sich in Neurosen und Überdruss. Den im Übermaß Gequälten kommt, wie uns jetzt, Stumpfheit zu Hilfe.“
Einen unsentimentaleren Blick als ihren kann man sich kaum vorstellen, obwohl einem an keiner Stelle das Wort „Kälte“ in den Sinn gekommen wäre, wie es Ceram in seinem Nachwort als erschreckende Empfindung beim Lesen beschreibt.
Sie sieht sich eine Sechzehnjährige an, die ihre Unschuld an einen Russen verlor, und stellt mitleidlos fest, dass deren Gesicht immer noch so dumm und selbstzufrieden wie vorher ist. Wenn dieses Mädchen im Frieden vergewaltigt worden wäre, so spekuliert Anonyma, wäre ein Verbrechen verfolgt worden. Nun aber, im Krieg, handelt es sich um ein Kollektivschicksal „vorausgewusst, viele Male vorausbefürchtet – um etwas, das den Frauen links und rechts und nebenan zustieß, das gewissermassen dazugehörte. Diese kollektive Massenform der Vergewaltigung wird auch kollektiv bewältigt werden. Jede hilft jeder, indem sie darüber spricht, sich Luft macht, der anderen Gelegeneheit gibt, sich Luft zu machen, das Erlittene auszuspeien.“ Manchen gelingt diese Heilung durch „Luftmachen“ nicht. Sie springen aus dem Fenster oder werden stumpf und verrückt.
„Eine Frau in Berlin“ ist ein unglaubliches Buch. Wer das Alphabet gelernt hat, darf und muss es jetzt lesen!
Anonymus: „Eine Frau in Berlin, Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945“, 300 Seiten, Eichborn (Die Andere Bibliothek), Frankfurt am Main 2003, 27,50 €Ľ(Erfolgsausgabe 19,90 €)