Ist der Bann gebrochen?

Unruhige, blutige, schreckliche Tage auf Haiti. Der Aufstand gegen Jean-Bertrand Aristide war erfolgreich. Offen ist nur, ob das, was nun kommt, besser sein wird, als der zermürbende Terror der Vergangenheit. Eine Spurensuche mit literarischen Vorlagen

VON TONI KEPPELER

Ein Toter in kurzen Hosen liegt rücklings auf der Straße, den Kopf in einer großen Lache aus Blut. Ein Mann schleudert einen großen Steinbrocken auf diesen schon blutleeren Kopf, gerade so, als wolle er den Toten noch einmal töten.

Das Foto entstand Anfang Februar in der haitianischen Provinzstadt Gonaïves, wo die Unruhen begannen, die Ende Februar zum Sturz von Präsident Jean-Bertrand Aristide führten.

Einer von gut hundert Toten in jenem Monat. Was sind schon hundert Tote aus der Dritten Welt im internationalen Nachrichtengeschäft? Wenn sie in einem zentralafrikanischen Staat massakriert worden wären, in einem Dorf im Hinterland, von irgendeiner marodierenden Miliz, dann wären sie den Agenturen nicht mehr als eine Kurzmeldung wert gewesen.

Haiti aber ist anders, etwas Besonderes. Haiti ist Karibik, Voodoo und Gewalt. Der Negeraufstand aus dem Kinderlied war nicht in Kuba, sondern hier. Er führte vor zweihundert Jahren zur ersten schwarzen Republik der Welt. Zuvor waren vierzigtausend weiße Kolonialherren getötet oder vertrieben worden. Seither werden Schreckensmeldungen aus Haiti gern kolportiert. Gerade so, als sollten sie beweisen, dass Schwarze sich nicht selbst regieren können. Die politische Elite des Landes tut alles, um dieses Vorurteil zu verstärken.

Nachrichten und Reportagen aus Haiti werden meist von Journalisten geschrieben, die nur ein paar Tage bleiben. Sie suchen das Chaos, und sie finden es. Entsprechend sind ihre Berichte. Das war schon immer so. Bereits Ende der Fünfzigerjahre sagt in Graham Greenes Roman „Die Stunde der Komödianten“ der – weiße – Besitzer des Hotels „Trianon“ vor einer Reise: „Ich hatte (dem Hausdiener) Joseph gesagt, dass während meiner Abwesenheit das Geschäft so weitergehen solle wie üblich, denn wer wusste, ob sich nicht ein paar Journalisten einige Tage hier aufhalten wollten, um eine Reportage über ein Land zu schreiben, das sie zweifellos ‚Die Alptraumrepublik‘ nennen würden.“

Es waren die ersten Jahre der Diktatur von François Duvalier, einem ehemaligen Landarzt, der Ende 1957 zum Präsidenten gewählt worden war und eine dreißig Jahre währende Familiendiktatur errichtet hatte. Mister Brown, dem Besitzer des Trianon, verdarb die Diktatur das Geschäft. Wehmütig denkt er zurück: „Zu dieser Stunde hätten die Cocktailgäste aus den anderen Hotels eintreffen sollen. In unserer guten Zeit tranken nur wenige anderswo als im Trianon. Die Amerikaner tranken stets trockene Martinis. Um Mitternacht schwammen gewöhnlich einige von ihnen nackt im Bassin. Eines Nachts hatte ich um zwei Uhr früh aus dem Fenster geschaut. Ein großer gelber Mond stand am Himmel, und ein Mädchen tat es im Schwimmbad. Sie hielt die Brüste an den Rand gedrückt, und ich konnte den Mann hinter ihr nicht sehen. Sie merkte nicht, dass ich sie beobachtete, sie merkte überhaupt nichts. In dieser Nacht dachte ich, bevor ich einschlief: Jetzt hab ich’s geschafft. Ich weiß noch, wie ich dachte: Ich werde es zum beliebtesten Tourismushotel im karibischen Archipel machen, und es wäre mir vielleicht gelungen, wenn nicht ein wahnsinniger Arzt zur Macht gekommen wäre und unsere Nächte mit den Dissonanzen der Gewalt erfüllt hätte anstatt mit Jazzmusik.“

In Wirklichkeit hat das Hotel „Trianon“ einen anderen Namen, es heißt „Oloffson“. Es sieht noch so aus wie zu Greenes Zeiten: „Mit seinen Türmchen und Balkonen und hölzernen Verzierungen aus Gitterwerk wirkte es nachts wie ein verwunschenes Haus auf einer Charles-Addams-Zeichnung des New Yorker. Man erwartete, dass eine Hexe oder ein irrsinniger Butler einem die Tür auftat, hinter sich eine Fledermaus, die vom Lüster herabhing. Im Sonnenschein aber, oder wenn zwischen den Palmen die Lichter brannten, sah es zerbrechlich und altväterisch und hübsch und lächerlich aus, eine Illustration aus einem Märchenbuch.“

Donnerstags zur Abendzeit ist es im „Oloffson“ noch ein bisschen so wie in den guten Zeiten des „Trianon“. Der heutige Besitzer – ein Mulatte – spielt mit seiner Musikgruppe Voodoorock und Ra Ra, und zu den meist weißen Gästen kommen die schwarzen Schönheiten von Port-au-Prince; sündhaft schöne Mädchen in weniger als nur knappen Kleidchen.

Sie lassen sich von den weißen Männern zu Drinks einladen und zu einem Essen; sie küssen sie auf den Hals und flüstern ihnen ins Ohr, dass sie die Nacht mit ihnen verbringen werden. Um Mitternacht schwimmen gewöhnlich ein paar von ihnen nackt im Bassin. Als Greene über sein „Trianon“ schrieb, lag es noch außerhalb von Port-au-Prince, am Hang über der Bucht des Hafens, am Weg hinauf nach Petionville, wo die besser gestellten Leute wohnen.

Heute hat die Stadt das „Oloffson“ umzingelt. Zu Fuß sind es vielleicht fünfzehn Minuten bis hinunter zum Marsfeld, wo der Präsidentenpalast liegt. Der Weg führt über eine enge Straße, deren Bürgersteige von fliegenden Händlern belegt sind. Die Fahrbahn besteht mehr aus Schlaglöchern denn aus Asphalt. Dort drängen sich bunt bemalte Pick-ups mit Bänken auf der überdachten Ladefläche. Man nennt sie Tap-Tap – der öffentliche Personennahverkehr von Port-au-Prince.

Dazwischen schrottreife Autos, die sich mit einem roten Stoffband am Rückspiegel als Taxi zu erkennen geben. Ab und zu ein nagelneuer hochrädriger Geländewagen. Man kann fast sicher sein, dass er entweder einer Botschaft oder einem Drogenhändler gehört. Ein Rohrbruch verwandelt das steilste Stück der Straße in einen Sturzbach. Das ist seit Tagen so, aber niemand kümmert sich.

Im Wasserwerk heißt es, es gebe kein Geld. Nicht um Löhne zu bezahlen und schon gar nicht, um Material zu kaufen. In der Kasse liege kein einziger Gourdes (rund zwei Cent).

Wenigstens hat die Verschwendung des überall in der Stadt knappen Wassers auch ihre positive Seite: Der stinkende Müll, der sich anderswo oft mehr als einen Meter hoch häuft, ist hier gründlich weggespült worden. Weiter unten an einer Tankstelle drängen sich die Fahrzeuge. Ein Lastwagen, voll beladen mit Menschen, schiebt sich langsam zur Zapfsäule vor. Er schubst einen der vielen Radfahrer an, die durch das Gewirr aus Fahrzeugen und fliegenden Händlerinnen kurven.

Der Mann auf dem Rad erschreckt sich, aber es ist nichts passiert. Sofort ist ein Dutzend weiterer Radler zur Stelle. Erst diskutieren sie den Fall lautstark und fuchteln mit den Armen, dann schlagen sie mit den Fäusten auf die Führerkabine des Lasters ein. Der Mann am Steuer wird grau. Er dreht schnell die Scheibe hoch und drückt den Sicherungsknopf herunter.

Nachts wirkt die Straße fast romantisch. Viele der Häuschen sind aus Holz und sehen aus wie Miniaturausgaben des „Oloffson“. Man nennt diesen Stil „Gingerbread-Architektur“ – Lebkuchenhäuschen wie solche im Märchen von Hänsel und Gretel.

Es ist stockdunkel. Durch die Fenster flackert der fahle Schein von Öllampen oder Kerzen, und man kann nicht sehen, dass viele Scheiben zerschlagen sind. Dass die Dächer aus Wellblech rot sind vor Rost und dass die einst grellen Farben der Fassaden längst blass geworden sind und blättern.

Nachts ist es gefährlich, die Straße hinauf zum „Oloffson“ zu gehen. Man könnte überfallen werden. Zwar schießen die Strauchdiebe nicht, sie haben nicht einmal eine Pistole; nur Messer oder Prügel. Aber es reicht auch, verprügelt und ausgeraubt zu werden.

Auch zu Papa Docs Zeiten gab es Wegelagerer, aber ab und zu auch Licht. „Manchmal war das Licht bis zu drei Stunden abgedreht, manchmal kaum eine einzige – es gab da keine Sicherheit“, sagt Mister Brown bei Graham Greene. Heute können Diebe sicher sein: Es gibt die ganze Nacht kein Licht.

Man muss in der Geschichte weit zurückgehen, um angenehmere Stadtbeschreibungen aus Haiti zu finden. Alejo Carpentier schreibt in seinem Roman „Das Reich von dieser Welt“ über Cap-Haïtien, die zweitgrößte Stadt des Landes: „An der Straßenecke ließ ein Schausteller Marionetten tanzen. Weiter vorn bot ein Matrose den Damen ein brasilianisches Äffchen an, das nach spanischer Mode gekleidet war. In den Tavernen wurden Weinflaschen entkorkt, die in Fässern voll Salz und nassem Sand kühl gehalten wurden. (…) In den letzten Jahren hatte die Stadt erstaunliche Fortschritte gemacht. Fast alle Häuser hatten zwei Stockwerke, Balkone, die, mit breiten Vordächern versehen, um die Ecken herumgeführt waren, und hohe Eingangstüren mit Lünettenoberlicht, fein gearbeiteten Schlössern und Kleeblattbeschlägen.“

Das war im 18. Jahrhundert, als Cap-Haïtien noch Cap François hieß und Haiti Saint Domingue; als das Land französische Kolonie war, vierzigtausend Sklaven im Jahr importierte und mehr Zucker produzierte als alle britischen Kolonien zusammen. Der Negeraufstand hatte noch nicht begonnen, die weißen Herren waren noch nicht niedergemetzelt worden, Haiti war noch keine unabhängige Republik.

Zwölf Jahre dauerte der Befreiungskrieg der Sklaven. Die weißen Herren waren am Ende vertrieben. Doch die Schwarzen, die vorher auf den Zuckerrohrplantagen für die französischen Herren Blut geschwitzt hatten, schwitzten nun für die neuen Herren. Nur eben, dass diese Haitianer waren und schwarz oder braun. Carpentier: „Viel Volk arbeitete auf diesen Feldern unter der Aufsicht peitschenbewehrter Soldaten, die von Zeit zu Zeit einen Kieselstein nach einem Faulenzer warfen. ‚Gefangene‘, dachte Ti Noel, als er sah, dass die Aufseher Schwarze waren; aber auch die Arbeiter waren Schwarze. (…) Ti Noel erfuhr von einem Flüchtling, dass die Landarbeit abermals Pflicht geworden war und dass die Peitsche sich jetzt in den Händen der republikanischen Mulatten befand, den neuen Herren der Nordebene.“

Haiti hatte erst einen schwarzen Kaiser, dann einen schwarzen König. Beide lebten in Saus und Braus und versuchten, das von den Franzosen geerbte Ausbeutungssystem bis zur Perfektion zu steigern. Für beide stehen noch heute Denkmale in Port-au-Prince. Sie waren und sind die Vorbilder all der folgenden Autokraten, bis hin zu Papa Doc und Jean-Bertrand Aristide.

Und alle, alle hatten sie ihre peitschenschwingenden schwarzen Aufseher. Die berühmtesten waren die Tontons Macoute der Duvalier-Diktatur. Eigentlich hieß diese Privatmiliz „Freiwillige für die Nationale Sicherheit“, im französischen Kürzel VSN. Tontons Macoute wurden sie vom Volk getauft.

Oft wird der Name mit „Böse Onkels“ übersetzt, aber das trifft es nicht ganz. Zwar ist „Tonton“ im haitianischen Kreol das Wort für „Onkel“. Aber es wird nicht im familiären Sinn benutzt, sondern hat eher die Bedeutung, die „Don“ im Spanischen hat: Ein Titel, mit dem man einen Herrn anredet, dem man Respekt schuldig ist. Und „Macoute“ ist eine Umhängetasche, in die man alles hineinsteckt. Ein Tonton Macoute ist ein „Onkel“, der alles wegsteckt: Geld, Güter, Menschen.

Im richtigen Leben trugen die Tontons keine Umhängetaschen, sondern schwarze Stiefel, knallenge Bluejeans, rote Halstücher und eine Art Barett. Oft auch eine Sonnenbrille. Graham Greene beschreibt sie als rüde Schlägertruppe, die im Auftrag des Präsidenten Angst und Schrecken verbreitet. Tontons haben den Hausdiener des „Trianon“ zum Krüppel geschlagen, Frauen vergewaltigt, einen dissidenten Minister ermordet. Sie taten das öffentlich, denn sie standen über dem Gesetz.

Sie wurden nur benutzt. Greenes Mister Brown: „Ich konnte verstehen, weshalb diese Leute dunkle Brillen trugen – sie waren auch nur Menschen, durften aber keine Furcht zeigen: Das könnte das Ende des Entsetzens bedeuten (…). Die Tontons Macoute im Wagen starrten mich ausdruckslos an wie schwarze Fetzenpuppen.“

Aristides Tontons trugen keine Uniformen, sondern Lumpen. Sie hießen offiziell „Volksorganisationen“ (OP), nannten sich aber „Schimären“ oder „Kannibalen“. Da ist kein Respekt mehr, wie bei Duvaliers „Onkels“; da ist nur noch Aggression bei den Tätern und Schrecken bei den Opfern. Und Aristide hatte die Polizisten der schnellen Eingreiftruppe BRI, wenige Dutzend Mann nur, von denen Menschenrechtsanwälte sagten, sie machten keine Gefangenen, sie seien Killer.

Auf der Nationalstraße 1 bei Gonaïves, wenige Wochen vor dem Beginn der Rebellion. Aristides Schlägerbande, die Kannibalenarmee, hat schon die Seite gewechselt und sich gegen den Präsidenten gestellt, weil ihr Chef von der Polizei ermordet wurde. Ein Wagen holpert einsam über die Schotterpiste, die hier durch eine wüstenartige Gegend führt. Nur Steine, Dornen und Kakteen.

Im Auto sind zwei Weiße und zwei Schwarze. Plötzlich werden sie von einem Geländewagen überholt, der wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Er hält ein paar Hundert Meter weiter vorne an. Aus den Türen springen sechs schwarze Männer heraus. Maschinenpistolen parat. Der überholte Wagen hält an, sechs Männer umzingeln ihn. Sie sind ganz in Schwarz: schwarzer Stahlhelm, schwarze Gesichtsmaske, schwarze schusssichere Weste, schwarze Stiefel. Eine Einheit der BRI.

Die Männer im Wagen erheben langsam die Hände. Zwei der Polizisten öffnen noch langsamer die Wagentüren. Die anderen vier zielen mit ihren Maschinenpistolen auf die Köpfe der Insassen. Die steigen in Zeitlupentempo aus, stellen sich mit dem Kopf zum Auto, legen die Hände aufs Dach, machen die Beine breit. Nichts wird gesprochen.

Die Blicke der Polizisten, die mit dem Lauf einer Maschinenpistole angedeuteten Gesten sind auch ohne Worte verständlich. Einer nach dem anderen zieht seine Papiere aus der Tasche, vorsichtig, ohne jede abrupte Bewegung. Bei dieser Personenkontrolle kann man kurz in die Augen eines Polizisten blicken und auf den Finger am Abzug. Der Finger zittert. In den Augen ist Angst. Der schmale Streifen Stirn, der nicht von der Gesichtsmaske bedeckt ist, ist schweißnass.

Als der Aufstand gegen Aristide losbrach, nahmen die Polizisten Reißaus. Ist der Bann ihres Terrors erst einmal gebrochen, gibt es nichts mehr, was sie schützen könnte. Der tote Mann auf dem Foto aus Gonaïves ist ein Polizist, der nicht rechtzeitig weggelaufen ist. Der Mann, der den wehrlosen Toten mit einem großen Stein noch einmal tötet, könnte einer aus der nächsten Generation der Tontons sein.

TONI KEPPELER, 47, bis Ende 2001 taz-Korrespondent für Zentralamerika und die Karibik, arbeitet als Auslandsredakteur beim Schweizer Nachrichtenmagazin Facts . In den vergangenen drei Monaten reiste er durch Lateinamerika und war dabei zwei Wochen in Haiti