: berliner szenen Vom Erwachsenwerden
Sentimentaler Umzug
Ich ziehe um, beziehungsweise nicht ich, mein ehemaliger Mitbewohner, mein bester Freund. Er wohnte noch immer, zuletzt vier Jahre lang allein, in der Wohnung, die wir uns zuvor geteilt hatten. Charlottenburg, Stuttgarter Platz, man ist umgeben von Puffs und Export-Import-Läden. Weil er dort wohnte, war das immer noch meine Wohnung, dem Gefühl nach, an dieser Wohnung hing ich. Ich hatte meine bislang schönste Zeit dort, neu in Berlin, Kreuzberg und Spandau waren nah, Mitte war unentdeckt, jedes Ausgehen eine Reise, der Osten hieß noch so. Nun also bin ich noch mal dort.
Wir schleppen, räumen, es soll schnell gehen. Tische werden zertreten, Schränke und Bettgestelle, es hat sich viel angehäuft. Plötzlich bin ich allein, Fegen, ich habe mich freiwillig gemeldet. Ich will der Letzte sein. 3. Stock, Hinterhaus, Ofenheizung, unrenoviert. In meinem Zimmer, noch immer: mein Zimmer, ich stehe am Fenster. Ich rauche, sehe hinaus, erinnere mich an das, was ich früher gesehen habe; Hinterhofspannen, das erste Mal, dass ich das konnte. Ich werde sentimental. Ich kann nicht gehen. Dann drüben, im Fenster, aus dem damals die kleine, dumme Katze gefallen war, eine alte Frau, ich kenne sie nicht, sie schaufelt Rote Beete aus einer Schale in ein Vorratsglas. Ich rauche und sehe zu. Sie arbeitet wie alte Frauen arbeiten, langsam, jeder Tropfen Rote-Beete-Saft ist wichtig. Ein ruhiges Bild. Ein Bild vom Altern. Dieses Haus wird bleiben, bleibe ich? Eines Tages komme ich zurück, am besten ich kaufe das ganze Ding, später, wenn ich reich bin. Ich komme mir vor wie die gescheiterten Dreißigjährigen, die derzeit jedes Magazin abfeiert. Wollen wir erwachsen werden? Was für eine dumme Frage! Ich schließe die Tür. JÖRG SUNDERMEIER