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Archiv-Artikel

Einsam stirbt der alte Löwe

Früher war der TSV 1860 München berühmter als der FC Bayern München. Dann ging’s mit ihm bergab – und mit den anderen steil nach oben. Löwen-Präsident Karl-Heinz Wildmosers Verhaftung zeigt, dass die Ära der wurschtig geführten Clubs vorbei ist. Nekrolog auf eine untergehende Vereinsgattung

VON JÖRG SCHALLENBERG

Einerseits ist unbekannt, ob Karl-Heinz Wildmoser schon mal von Andy Warhol gehört hat. Andererseits ist es doch wenigstens möglich, dass dessen schöner Ausspruch von den 15 Minuten Ruhm, die jedem zustünden, auch ins Löwenstüberl oder ins Café Hinterbrühl gedrungen ist. Denn in deren Räumen spann Wildmoser, zwischen Weißbierschaum und Nikotinschwaden, seine Vision von einem strahlenden, global anerkannten Münchner Fußballvereins. Einer, zu dessen Heimspielen die Massen durch die Stadiontore drängen. Nur: Den gibt’s längst. Er heißt bloß nicht TSV 1860 München. Und wird auch nie so heißen. Ebendas war die Tragik dieses früheren Boxers, Wiesnwirts, Metzgers, und Mietspekulanten.

Ein babyblaues Nichts

Irgendwann wird das selbst Karl-Heinz Wildmoser begriffen haben. Dann hat er zusammen mit seinem Sohn, den man nur Heinzi nennt, beschlossen, lieber einen krachenden Abgang zu inszenieren, als weiter das Unmögliche zu fantasieren. Einen Abgang, der den TSV 1860 München wenigstens einmal noch in die Schlagzeilen katapultieren würde. Vielleicht gar an einem Tag, da die anderen, die Roten, Uneinholbaren, gerade tapfer Real Beckham die Stirn bieten.

Klappte bestens. Wie Bayern gespielt hat, interessierte nur noch beiläufig, dafür hat 1860 eben jene 15 Minuten bekommen, die wirklich zählen. Was mehr ist, als jeder Löwenfan ernsthaft erwarten durfte. Denn der TSV 1860 ist heute, nach zwölf Jahren Wildmoser-Diktatur, nur noch ein, den Vereinsfarben gemäß, babyblaues Nichts. Es gibt interessantere Vereine. Den VfL Wolfsburg zum Beispiel. Oder, bayerisch betrachtet, die Spielvereinigung Unterhaching.

Das Verschwinden des einstigen Mythos 1860 hat viel, wenn nicht alles damit zu tun, dass der Club von Menschen wie Karl-Heinz Wildmoser geleitet wurde, die einfach nicht begreifen konnten, dass es den FC Bayern nur einmal geben kann. Und die Zeit für Vereine wie 1860 abgelaufen war. Das muss irgendwann im Frühjahr 1967 gewesen sein. Da belegen die Sechziger zwar noch den dritten Platz in der Bundesliga, aber die Bayern gewinnen gleichzeitig gegen die Glasgow Rangers den Europacup der Pokalsieger. Zwei Jahre zuvor hat 1860 vor 100.000 Zuschauern in London das Finale gegen West Ham United verloren. 1966 dann, in dem Jahr, in dem die Beatles „Revolver“ veröffentlichen, wird 1860 mit tollem Sturmspiel Deutscher Meister. Einen Moment scheint es, als könnte der Arbeiterverein aus dem Proletenviertel Giesing einen Hauch der Pop-Ära in den deutschen Fußball einbringen.

Der geniale Stürmer und schwere Säufer Rudi Brunnenmeier lebt einen Stil vor, den George Best später in Manchester perfektionieren sollte, der Torwart Petar Radenkovic startet mit dem Ball Sololäufe übers Spielfeld und singt sich mit „Bin i Radi, bin i König“ als erster Fußballer in die Hitlisten. Doch der Niedergang der Blauen ist bereits zu ahnen. Denn der Lokalrivale und kleinere Verein FC Bayern ist bereits einen Tick cleverer.

Bei der WM 1966 in England wird nicht Brunnenmeier, sondern ein 20-Jähriger namens Franz Beckenbauer zum Star. Und der junge Bayern-Torwart Sepp Maier lässt den großen Radenkovic auflaufen: „Bin i Radi, bin i Depp, König ist der Maier Sepp.“

Da staunt man bei 1860, und bekommt den Mund in den folgenden Jahren gar nicht mehr zu. Ungläubig sieht man mit an, wie die Bayern sportlich davonziehen. Im Gegensatz zum etwas muffigen blauen Stadtviertelclub waren die Roten ohnehin schon immer polyglott aufgetreten – „weltläufig statt beheimatet“, wie ein Politologe schrieb.

Gegründet von Schwabinger Künstlern im Jahr 1900, also vierzig Jahre nach den natürlich unvergleichlich traditionsreichen Sechzigern, galt der FC Bayern als Treffpunkt der Intellektuellen, offen nach allen Seiten, wenig klassenbewusst. Dem 1933 durch die Nazis abgesetzten jüdischen Präsidenten Kurt Landauer hielt man im Verein die Treue und holte ihn bald nach dem Krieg zurück. Die Zeit schrieb einmal: „Sollte Hitler einen Münchner Lieblingsverein gehabt haben, so muss man davon ausgehen, dass es der Lokalrivale 1860 war, der so genannte Arbeiterverein, der schon von 1934 an SA-Männer an der Führungsspitze hatte.“

1970 jedenfalls, als der FC Bayern das Fußballgeschäft längst betriebswirtschaftlich-kühl analysierte, verabschiedete sich der TSV 1860 aus der Bundesliga – von der Ära Brunnenmeier war nichts mehr übrig. Zweimal steigt man wieder auf und schnell wieder ab, ehe sich der Verein nach einem Lizenzentzug 1981 in der Bayernliga wiederfindet.

Doch in diesen Untiefen erfindet sich der Mythos der Sechzigerlöwen neu, dieses Mal als sympathischer Underdog, dessen Fans ihre Identität wesentlich aus dem erbitterten Gegensatz zu den Großkopferten des FC Bayern beziehen, der längst zum Weltverein aufgestiegen ist. Zu Heimspielen gegen Fürth oder Schweinfurt kommen über 30.000 Zuschauer. Lokalblätter widmen den Amateuren ebenso viel Platz wie den Bayern, die da schon mit dem Gedanken an eine Europaliga liebäugeln.

Mit dem Präsidenten Wildmoser steigt 1860 München 1994 wieder in die Bundesliga auf, er war der Beweis, dass der Traum, dem FC Bayern auf Augenhöhe zu begegnen, nicht vergebens geträumt war. Welch Irrtum: Ihr Präsident verkündet lauthals, wie sehr er den Kollegen Franz Beckenbauer bewundert, sitzt bei den Spielen der Bayern auf deren Ehrentribüne und outet sich gar als Bayern-Mitglied. Zwei Jahre nach dem Aufstieg verkündet er, ein Albtraum: „Wir sind wie der FC Bayern, wir heißen nur anders“ – und verfrachtet seine Giesinger Stammkundschaft vom Stadion an der Grünwalder Straße für Heimspiele ans andere Ende der Stadt – ins Olympiastadion, das auf jeder Pore seines Betons nichts als FC Bayern atmet. „We are blue, we are white, we are FC Bayern light“, skandieren seitdem die Fans.

Wildmoser ließ sich nicht beirren, er, der schon äußerlich so überhaupt nicht an die Coolness der Hoeneß und Beckenbauers herankam, vereinbarte mit dem FC Bayern, die neue Allianz-Arena zu bauen. Was die Löwen dort wollen, weiß niemand, aber der größenwahnsinnige Wildmoser hatte sich, womöglich von Minderwertigkeitskomplexen getrieben, längst in Fieberträume verloren, in denen er als Volkstribun mit den seinen und dem FC Bayern in ein gemeinsames Stadion hochzieht.

Geruch von Metzgerblut

Endlich sollte er dabei sein – zwischen Audi, Adidas und Allianz. Dabei verkörpert der fleischige Wildmoser selbst am besten die Unmöglichkeit seines Strebens. Verzweifelt bemüht sich der mittelprächtige Gastronom, der hinterfotzig agierte, als ob an seinen Händen immer der Geruch von Metzgerblut kleben würde, um den Einstieg in die Münchner feine Gesellschaft. Und begreift nicht, dass verächtliche Sprüche über eigene Spieler nicht das Gleiche sind wie das Gepolter Beckenbauers über Rumpelfußball. Oder dass man für einen professionell geführten Verein samt lukrativen Kirch-Geheimverträgen keinen Heinzi, sondern einen Hoeneß braucht.

Ewig draußen vor der Tür

So viel stand ja fest: Wildmoser würde immer draußen vor der Tür bleiben. Wer nur Weißwurst symbolisiert, passt nicht zur Lebensart, auf die der FC Bayern hält, wenn er beim Feinkosthändler Käfer vorbeischaut.

Seine grenzenlose Verehrung des FC Bayern, bei dem er mal Funktionär werden wollte, aber nicht benötigt wurde, gleicht der Bewunderung des Delinquenten für seinen Henker. Wenn die Geschichte des modernen Fußballgeschäfts in Deutschland eines lehrt, dann, dass in keiner Stadt auf Dauer Platz für zwei Bundesligavereine ist, weder wirtschaftlich noch was das Interesse der Zuschauer anbetrifft: Der FC St. Pauli und die Stuttgarter Kickers haben dies erfahren müssen.

Nur der TSV 1860 hätte die Ausnahme schaffen können. Doch Wildmoser hat mit seiner Anbiederei an die Kultur des FC Bayern den eigenen Club ideell entkernt. Es gibt nichts mehr, womit man 1860 noch verbindet – außer mit Wildmoser.

Leiden- und eigenschaftslos kickt die Mannschaft seit Jahren und rutscht immer weiter ab. Vertan ist die Chance, sich als eine Art Stadtviertel-SC Freiburg eine Nische zu schaffen.

Ob der Präsident, dessen Haftbefehl gestern außer Vollzug gesetzt wurde, und sein Heinzi wenigstens die Genugtuung spüren, den Stadionneubaupartner FC Bayern einmal über den Tisch gezogen zu haben? „Mei, ich geh nicht mehr hin“, sagte ein Fan vor der versiegelten 1860-Geschäftsstelle, „die sind selbst zum Bescheißen zu doof.“

Heute spielen die Löwen beim VfB Stuttgart. Ein Abstiegsspiel, was sonst. Man hat dem Präsidenten bedeutet, seine Anwesenheit sei unerwünscht. Ein Befreiungsakt, der fast rührend wirkt.