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Archiv-Artikel

Die Spur der Sonnenblumen

Die Emder Kunsthalle ist ständig auf der Jagd nach Besucherrekorden. Doch mit der Werkschau der amerikanischen Künstlerin Joan Mitchell wagen sich die Emder weg von den einschlägigen Publikumsmagneten. Mitchells Erinnerungslandschaften überwältigen nicht, sie zeichnen Spuren auf

Joan Mitchells Werk ist die Erinnerungsspur von etwas, was schon ohne den Betrachter stattgefunden hat

VON ANNEDORE BEELTE

Sie muss ein Partyschreck der schlimmsten Sorte gewesen sein. „Wer, glaubst du, bist du? Lord Byron?“, pampte Joan Mitchell den Autor Paul Auster bei der ersten Begegnung der beiden an. Der New Yorker weiß von einem denkwürdigen Abend zu berichten, an dem sie über eine Tischgenossin herfiel, die einen so spießigen Plan wie Heiraten hegte. Und gerne brüllte sie vom Treppenabsatz aus ihren Lebensgefährten Jean-Paul Riopelle zusammen, der brav vor der Tür auf sie wartete.

Das ist die eine Joan Mitchell. Die andere wurde traurig, wenn sie eine Sonnenblume sah, die den Kopf hängen ließ. „Ich möchte so etwas schaffen wie das Gefühl einer Sonnenblume, die im Sterben begriffen ist“, sagte sie. Mitchell gilt als bedeutendste Vertreterin der zweiten Generation des Abstrakten Expressionismus, nach den Stars der ersten Generation wie Jackson Pollock und Willem de Kooning. Die Emder Kunsthalle zeigt derzeit ihre erste Einzelausstellung in Deutschland.

Für den wissenschaftlichen Leiter des Hauses, Nils Ohlsen, ist die Mitchell-Ausstellung ein „Hochrisikoprojekt“. Denn die Kunsthalle ist beständig auf Rekordjagd. Regelmäßig werden die Medien mit neuen Besucherrekord-Meldungen versorgt. Die Nachrichtenagentur dpa spielt das Spiel mit und verkündete zuletzt vollmundig, dass die „Ausstellungs-Bestenliste der Kunsthalle neu geschrieben werden müsse“: Die Großausstellung des vorigen Winters, „Garten Eden“, hatte mit über 64.000 Besuchern Emil Nolde überholt, Highlight des Winters 2006 / 2007.

Mit der Bremer Kunsthalle, die mit Publikumslieblingen wie Paula Modersohn-Becker 290.000 Fans anzog, kann die Emder zwar nicht mithalten. Doch der wiederentdeckte Impressionist Gustave Caillebotte erreichte in Bremen auch nur 45.000 Experimentierfreudige. „Emden ist nicht Berlin“, sagt Nils Ohlsen. Gerade im Winter muss man sich schon etwas einfallen lassen, damit Besucher an den Dollart kommen. Er könne „nicht alles ausstellen, was ich möchte“, erklärt Ohlsen. „Zumindest im Unterbewusstsein“ laufe der Bodycount immer mit. Zwölf Prozent des Haushaltes müssen über Eintritte hereinkommen. Da sind die herzerwärmenden Farben eines Emil Nolde nicht nur Balsam für die Seele, sondern auch für den Etat.

Umso mehr ist Ohlsen mit dem Ergebnis der verspielten „Garten Eden“-Schau zufrieden. Dort unternahm er einen Rundumschlag durch die Gärten der Künstler, ließ in einem surrealen Gartenschuppen Kristalle und in einem schrägen Labor Rasen im Glas züchten. Die „Garten Eden“-Ausstellung war für Ohlsen beides, Herzensangelegenheit und Besuchermagnet. Seit diesem Erfolg scheint Ohlsen sein Standing als wissenschaftlicher Leiter des Hauses gefunden zu haben, das Henri Nannen 1986 für seine Bilder baute und das heute von dessen Witwe Eske regiert wird.

Jetzt also das Wagnis Joan Mitchell. Die Emder locken schon im Untertitel mit dem Innovationspotential: „Eine Entdeckung der New York School“. So ganz unbekannt, wie die Ausstellungsmacher glauben lassen wollen, ist freilich nicht, dass im Kreis der Abstrakten Expressionisten, die sich gegen die Kleingeistigkeit der McCarthy-Ära auflehnten, zahlreiche Frauen wirkten. Elaine de Kooning, Helen Frankenthaler und Lee Krasner waren, wie es der New Yorker nennt, „Frauen und Freundinnen der Alpha-Männchen“. Die schöngeistige Joan Mitchell, Tochter der Herausgeberin einer Lyrikzeitschrift, behauptete sich in dieser Szene ohne einschlägige Beziehung: saufend und fluchend wie ein Seemann, heißt es. 2001 etwa widmete sich die Pfalzgalerie Kaiserslautern diesen toughen Frauen. Doch das schmälert nicht das Verdienst der Kunsthalle, aus französischen und US-Museen 34 Werke versammelt zu haben, die ein Lebenswerk von 600 bis 700 Arbeiten überblicken lassen.

An Fragment gebliebenen Arbeiten zeigt Nils Ohlsen, wie Joan Mitchell zu malen begann: Mit einer Geste, die im Kopf schon vorformuliert war. Wie eine asiatische Kalligraphin, die jedes Zeichen mit dem ganzen Körper schreibt. Diese erste Geste wird das Bild bis zum Ende prägen. Als in den sechziger Jahren Künstler ihr Unbehagen am Bild formulierten, Leinwände aufschlitzen oder sich für so flüchtige Gattungen wie Performance begeisterten, blieb Joan Mitchell der Malerei treu. Sie wandte sich der klassischen Moderne zu, malte ihre Erinnerungslandschaften als Seelenverwandte des späten Monet und kaufte sogar dessen Anwesen bei Paris.

Mark Rothko, ein anderer Gigant des Abstrakten Expressionismus, sah sich bestätigt dadurch, dass Menschen vor seinen Farbfeldern weinend zusammenbrachen und quasi-religiöse Erfahrungen durchlebten. Joan Mitchells Werk ist keines, dass den Betrachter auf diese Weise aufsaugt. Es ist vielmehr die Erinnerungsspur von etwas, das schon ohne ihn stattgefunden hat: Die körperliche Bewegung des Malens, das Echo von Musik, von verschneiten Tannen oder verblühten Sonnenblumen.

Die Bilder von Mitchell sind wie die Spur eines Schlittschuhs im Eis. Und wirklich war die Künstlerin, die so vieles war, auch Eiskunstläuferin.

Bis 8. März 2009