: Kalter Posterboy der Revolution
von ROBERT MISIK
Es war im Februar 1957, als Fidel Castros Freischärler ihren ersten Verräter fingen – einen kubanischen Bauern, der ihre Stellungen an die Armee ausgeplaudert hatte. Schließlich verkündete Fidel Castro, der Bauer werde hingerichtet, und ging weg. „Die Situation war […] unangenehm“, notierte Ernesto Che Guevara an diesem Tag in seinem Tagebuch, „also machte ich dem Ganzen ein Ende und schoss ihm mit einer 32er-Pistole in die rechte Gehirnhälfte mit Austrittsloch am rechten Schläfenbein. Er röchelte noch ein wenig, dann war er tot.“
Che, der Posterboy der Revolution, des Kommunismus größter Popstar – ein eiskalter Revolvermann? Wie viel Realität steckt im Mythos? Régis Debray, der Franzose, der 1967, zehn Jahre später, an Guevaras Seite in der Guerilla in Bolivien kämpfte, meint, zwischen Che und seinen Gefolgsleuten habe eine „unendliche innere Distanz“ geherrscht. Der Guerillero (1928 – 1967) sei „unsympathisch und bewundernswert“ gewesen. „Sehr herrisch war er“, berichtet Alberto Korda, der Reporter, von dem das wohl am häufigsten gezeigte Foto der Welt stammt – das von Che mit dem Jesusblick, dem langen Haar im Wind und der Mütze, auf der der rote Comandante-Stern leuchtet. Und der Philosoph Jean Ziegler erinnert sich, Che sei „ein ziemlich kalter Mensch gewesen, so im Umgang“ (siehe Interview).
75 Jahre alt wäre der „Revolutionär, Arzt, Traumtänzer“ (Stern) heute geworden, eine der mysteriösesten Figuren in der an Seltsamkeiten nicht armen Geschichte der Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Nach seinem Tod 1967 – sein Versuch, die Revolution via Bolivien nach ganz Lateinamerika zu exportieren, endete tödlich – war er schnell zu einer Ikone aller Revoltierenden von Paris bis Mexiko-Stadt geworden.
Zwischendurch etwas aus der Mode gekommen, ist Che indessen wieder sehr en vogue. Über Friedensdemonstrationen weht sein Antlitz ebenso wie über denen der Globalisierungskritiker. Schüler nähen sich Che auf die Jacke und Supermodels wie Kate Moss tragen ein Che-T-Shirt beim Joggen. Che ist eine Chiffre für heroische Gesten oder auch bloß Signatur für eine Art unbestimmter Verweigerung und für die romantische Sehnsucht, „das Unmögliche zu wagen“.
Arzt, Intellektueller, war er ein Abenteurer, schon bevor er ein Kämpfer wurde; das asthmakranke Kind, aus bester argentinischer Familie, das Konventionen missachtete und sich damit brüstete, wie selten er sich wusch; der in Guatemala einen von den USA organisierten Putsch miterlebte und, als die Bomben auf die Hauptstadt fielen, seinem Tagebuch anvertraute: „Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es mir großen Spaß machte.“ Ein junger Mann, in dem Lebenshunger steckte, aber auch mehr als nur eine Prise Todessehnsucht. Später tauschte er das Stetoskop gegen die Knarre, obwohl er eigentlich als Arzt für Castros Guerillatrupp vorgesehen war. Er war, was man so verwegen nennt.
Doch der Pfad der Kolonne, die er – zum Comandante ernannt – befehligte, ist übersät mit den Leichen von Verrätern und Deserteuren, deren Hinrichtung er befohlen, teils auch vollstreckt hat. Nach dem Sieg der kubanischen Revolution führte er das Kommando über die Festung Cabana, wo Kollaborateure und Folterknechte des gestürzten Batista-Regimes hingerichtet wurden. „Revolutionen sind hässlich“, sagte Che einmal. Ihre Opfer seien aber gerechtfertigt, weil sie „zur künftigen Gerechtigkeit“ beitrügen. Wichtig sei nur, dass sie vor der Geschichte bestehen.
Die Geschichte! Der Che-Mythos ist zum nicht geringen Teil Selbst-Mythologisierung. Ches Rigidität, seine Stilisierung zum strengen, harten Führer, war stets und vor allem der Versuch, auf seine Zeitgenossen zu wirken. Als er seine Ämter niederlegte, um wieder in den Krieg zu ziehen, schrieb er in dem Abschiedsbrief an seine Eltern: „Viele werden mich einen Abenteurer nennen, und ich bin auch einer; nur von einem anderen Typ, einer von denen, die ihre Haut hinhalten, um ihre Wahrheit zu beweisen.“
Gerade deshalb war er eine eminent antisowjetische Ikone: Weil er nicht in einem Revolutionspalast saß und bei Sekt und Kaviar die Experimente am „neuen Menschen“ begutachtete, sondern im Selbstversuch daran teilnahm – mit einer Radikalität, die im Kern mysteriös bleibt. Letztlich prägte ihn ein apokalyptisches Streben zum Tode hin. Das durchzog auch seine Theorie von der Guerillamethode, seine Kritik an den Sowjetführern, deren Konzept der „friedlichen Koexistenz“ zwischen kommunistischer und kapitalistischer Welt ihm verhasst war. Es stockt einem das Blut in den Adern bei der Vorstellung, an ihrer Stelle hätte Che Guevara gesessen. Einer, der einen „Dritten Weltkrieg“ entfesseln wollte und der den Sowjets nie verzieh, dass sie in der Raketenkrise 1962 nicht die Atomsprengköpfe über New York zündeten.
Immer mehr wurde er zu einem Theoretiker der Gewalt, das prägte auch seine Wortwahl. Der Terminus vom „bewaffneten Kampf“ wurde nach und nach vom ungeschönten Wort „Gewalt“ ersetzt, die „Hebamme der neuen Gesellschaften“. Am Ende sang er ein Loblied auf den „Hass“, den „unbeugsamen Hass dem Feinde gegenüber“. Der Guerillero „muss in eine gewaltsame, kalte Tötungsmaschine verwandelt werden“.
Wurde er trotz oder wegen seiner apokalyptischen Fantasien vom „absoluten Krieg“ zu einer Kultfigur? Welche Sehnsüchte werden da angerufen? Da ist einmal, wie der Autor Hans-Christoph Buch einmal schrieb, der alte europäische Mythos vom „edlen Wilden“, dem trickreichen Krieger mit Sex-Appeal. Der Guerillero ist wohl auch Projektionsfläche für Ausbruchsfantasien: alle Brücken abbrechen, alles hinter sich lassen. Zudem gibt es die lange Tradition eines Vitalismus, die das wahre Leben in der existenziellen Erfahrung des Krieges wähnt. Und nicht zuletzt ist das kulturelle Gedächtnis des Westens tief geprägt von der biblischen Vorstellung, die Erlösung setze eine apokalyptische Katastrophe voraus. Tabula rasa. Zerstören, um aufbauen zu können.
Gewalt wird reinigende Wirkung zugeschrieben. Wie sehr klingt das allein im Unwort „Säuberung“ an. Die Ikone Guevara ist im öffentlichen Bewusstsein auf eine Weise verankert, dass er zwar schuldig, doch nicht „unsauber“ sein kann. Der Guevara-Mythos lebt gerade von diesem Kontrast: ein Rambo, aber ein sensibler. Zarter Finger und Eisenfaust. Einer, der ohne zu zögern tötet, ein halbes Dutzend Kinder vaterlos zurücklässt, ihnen aber die Botschaft hinterlegt: „Seid immer fähig, bis ins Tiefste jede Ungerechtigkeit zu empfinden, die irgendwo auf der Welt irgendjemandem angetan wird. Das ist die schönste Eigenschaft eines Revolutionärs.“