Es muss da einen Engel geben

Einen, der über Annie Lennox wacht: Einst galt die androgyne Sängerin als das Aushängeschild einer neuen Frauengeneration. Ihr Comeback-Konzert im Tempodrom trug zwar Züge eines 80er-Jahre-Liederabends – bestätigte aber ihr Ausnahmetalent

von ULF LIPPITZ

Stell dir vor, Annie Lennox kommt und keiner geht hin. Diese – zugegeben blasphemische – Vorstellung basiert auf dem kreativen Null-Punkt, den die britische Sängerin und einstige Eurythmics-Hälfte in den letzten Jahren anzusteuern schien. Vor vier Jahren versank der Eurythmics-Neustart im verdienten Treibsand der Bedeutungslosigkeit, vor neun Jahren bescherte uns Annie Lennox eine reichlich überflüssige Cover-Platte – und immerhin elf Jahre sind bereits vergangen, seit das hübsche Solo-Debüt „Diva“ ihren Ruf als weiblicher Elton John festigte.

Dabei war die androgyne Sängerin in den Achtzigerjahren einst das Aushängeschild einer toughen Frauengeneration. Dann kam die Heirat, der Nachwuchs und ein großes Bedürfnis, sich zunehmend am Themenkatalog der bürgerlichen Zweierbeziehung abzuackern. Spaß ade, Ödnis olé!

Wischblende ins Tempodrom 2003: Ein neues Album soll im Juni die Welt erschüttern, „Bare“ wird es heißen. Seit März tourt die Grand Dame der seelischen Bestandsaufnahme dafür durch die westliche Welt. Der Verdacht liegt nahe, dass das nur der Erhaltung eines lieb gewonnenen Star-Status dienen kann. Dem zahlreich anwesenden Publikum dürfte das schnurzegal sein. Manch einer wirkt selbst wie ein Überbleibsel aus vergangener Zeit: Enge Lederhosen sind zu bestaunen, wallende Seidenblusen und ordentlich ondulierte Fön-Wellen – nicht Retro, sondern ongoing Achtzigerjahre. Eisern bleibt man gut gelaunt, obwohl die Flasche Chianti am Eingang von den Ordner-Spaßbremsen einkassiert wurde.

Dem Altersdurchschnitt angemessen, beginnt die 48-jährige Sängerin pünktlich um viertel nach acht. Ein Ambient-Budenzauber durchströmt die Halle: Esoterische Klänge ertönen, blaue Lichtkegel blenden das verzückte Publikum, und fünf Musiker sowie drei Background-Sängerinnen betreten die Bühne wie Schattengestalten. Aus dem New-Age-Synthie-Brei formt sich der Takt zu „Money Can’t Buy It“, einem Lied, das auf der ersten Solo-Platte zu finden ist.

Annie Lennox tritt auf. Die ersten Zuschauer rasseln mit ihren Lungen. In der Hitze der Halle besteht angemessene Hyperventilations-Gefahr. Wohl kaum für Annie: Sie sieht unglaublich gestählt aus. Dank einer schwarzen, engen Hose erkennt man gut ihre Kondition. Oben trägt sie ein schwarzes Top, darüber eine lässige Jeansjacke, auf dem Kopf eine schwarze Wollmütze, und eine Sonnenbrille rundet die modische Unnahbarkeit ab. Die Verkleidung funktioniert. Nebenan fragt ein Besucher, der offenbar nicht mit dem gesamten Oeuvre der Sängerin vertraut ist: „Entschuldigung, ist das schon Annie Lennox – oder erst die Vorband?“

Sie ist es. Die Stimme sitzt. Jeder Ton kommt perfekt heraus. Annie Lennox kann immer noch auf einer Tonleiter Salti vollführen. Bravourös trifft sie die hohen Töne, als ihr dritter Song „Little Bird“ wortwörtlich zum ersten Höhepunkt des Konzertes avanciert. Auf ein Zeichen der Künstlerin setzen sich die bisher auf Stühlen festgeklebten Massen in Bewegung, ziehen in das Rund vor der Bühne und feiern eine moderate Party.

Dann schraubt die Gastgeberin die Stimmung deutlich herunter, indem sie eine Ballade ihres neuen Albums spielt: „1000 Beautiful Songs“. Ein intimes Lied, das sie immerhin bewegt, die Sonnenbrille abzunehmen. Minimalistischer Kitsch zieht sich wie ein Programm durch ihre Darbietung: im aufdonnernden „No More I Love You’s“ spürt man es genauso wie im theatralischen „Walking On Broken Glass“ oder der neuen Single „Pavement Cracks“. Am Ende des Midtempo-Stücks drückt sie ordentlich auf die Ich-kann-besser-heulen-als-ihr-alle-Tube. Sie schreit, flüstert und bibbert die Zeile „No turning back“ wie ein Mantra in das vor Ehrfurcht versteinerte Publikum. Erst nach acht Liedern redet sie zum ersten Mal. Fehler! „Ist es jetzt gut nach dem Fall der Mauer in Berlin?“, fragt sie, nicht ganz auf der historischen Höhe. Verwirrt tönt ihr ein laues „Yeah“ entgegen.

Dann spielt sie am Klavier Unplugged-Versionen von „Here Comes The Rain“, „Sisters Are Doin’ It For Themselves“ und weiteren Eurythmics-Klassikern. Das klingt zwar ein wenig nach Billy-Joel-Liederabend, aber es ist fantastisch. Weitere sieben Stücke, darunter Hits wie „Why“, folgen. Sie könnte jetzt die Konsistenz ihres Shampoos besingen, die Leute würden ihr bedingungslos folgen wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln.

Es muss da einen Engel geben, der über Annie Lennox wacht. Vielleicht hat sie im Tempodrom keine neuen Facetten offenbart. Aber gezeigt, dass sie, eine verdammt gute Sängerin, noch längst nicht am Nullpunkt ist.