: Der Antiwikinger
Montag: Vormittags Interview mit dem staatlichen Fernsehsender RÚV zum Ablauf der Proteste am Wochenende Dienstag: Künftige Aktionen mit Mitstreitern besprechen, um 14 Uhr geht’s in die zweitgrößte Stadt Islands, Kopavogur, wo Torfa für die Protestbewegung Büroräume eingerichtet hat Mittwoch: 12 Uhr Teilnahme an Menschenkette ums Parlament, nachmittags Präsentation seiner Ende November erschienenen Biografie „Tabu.“ in der Reykjavíker Stadtbibliothek Adalbókasafn Donnerstag: Treffen mit Polizei und Ordnungsamt im Rathaus zur weiteren Koordination der Proteste, abends Saunabesuch im Schwimmbad Vesturbærjarlaug Freitag: Besuch des Vaters im Altenwohnstift und Spaziergang mit ihm, nachmittags weitere Demovorbereitungen. Abends eventuell Pizza backen mit Freund Massimo Täglich: Aufstehen zwischen 6 und 6.30 Uhr, Notizen machen, Radionachrichten hören. Seine vier Telefone schaltet Torfa abends um 22 Uhr ab – die bleiben bis 7 Uhr morgens aus.
AUS REYKJAVÍK PHILIPP BOERGER
Er sieht ein bisschen aus wie James Bond beziehungsweise Daniel Craig. Dieses Kompliment hört Hördur Torfa nicht ungern. Weitere Gemeinsamkeiten gibt es sonst nicht. Zwar haben beide, James Bond und Hördur Torfa, große Missionen zu erfüllen, aber zum einen ist James Bond nicht schwul und wird es so bald wohl auch nicht werden, und zum anderen lehnt Hördur Torfa Gewalt als Mittel zum Zweck strikt ab.
Hördur Torfa, 63 Jahre alt, Sänger, Dichter und Regisseur, steht seit Anfang Oktober an der Spitze einer wachsenden Protestbewegung. „Diejenigen, die uns in diese prekäre Lage gebracht haben, wollen uns erzählen, das wird schon wieder alles. Aber wir glauben ihnen nicht mehr“, sagt er.
Hördur ist ein wahrer Isländer. Das muss der Reporter immer wieder feststellen. Egal, wann und wo wir uns in diesen Tagen treffen, ob zum Frühstück in seiner gemütlichen und top aufgeräumten Zweizimmerwohnung, ob zufällig auf der Straße, was hier in Downtown Reykjavík durchaus vorkommen kann, oder abends in der Sauna, er ist stets die Ruhe in Person, wirkt ausgeglichen und gibt einem nie das Gefühl, unerwünscht oder lästig zu sein, egal wie oft eines seiner vier Telefone in diesen Tagen auch klingeln mag.
Torfa tritt für politische Erneuerung, für Neuwahlen ein. Die „Clique“ soll endlich zurücktreten, fordern er und eine wachsende Zahl anderer Menschen: „Anfang Oktober waren wir nur fünf oder sieben Leute“, erzählt er. „Jetzt sind es bis zu 7.000, die am Wochenende zu den Protesten kommen.“ 7.000 Teilnehmer, das klingt zunächst nicht sonderlich beeindruckend, doch bei der geringen Einwohnerzahl Islands sind es über 2 Prozent der Bevölkerung.
Die Isländer werden nämlich ungeduldig. Vor zwei Wochen stürmten sie das Polizeihauptquartier, um einen arrestierten Demonstranten zu befreien, der auf dem Dach des Parlaments die Fahne der Supermarktkette Bónus gehisst hatte – ein rosa Sparschwein. Vergangenen Mittwoch besetzten einige hundert Menschen das Foyer der Zentralbank.
Seitdem die internationale Finanzkrise Island so hart erwischte wie kein anderes Land der Welt, hat nahezu jeder Bürger Geld verloren. Einige verloren sogar ihre Wohnungen und Häuser. Immer mehr Menschen erhalten betriebsbedingte Kündigungen, weil ihre Firmen die Importe nicht mehr bezahlen können. Denn die isländische Krone hat im Vergleich zu Dollar, Euro und britischem Pfund erheblich an Wert verloren. Lebensmittel kosten inzwischen doppelt so viel wie vor einem Jahr. Und jetzt ist ja erst Dezember, das Weihnachtsfest steht bevor.
„Die ganze Wucht der Rezession werden wir im Januar oder Februar zu spüren bekommen“, befürchtet Torfa. „Sie wird uns noch härter treffen, als wir jetzt abschätzen können.“ Tatsächlich prophezeien Experten eine Arbeitslosenquote von 15 bis 20 Prozent – in einem Land, in dem Arbeit als heilig gilt und in dem seit dem Zweiten Weltkrieg Vollbeschäftigung herrschte.
Aber sind die Isländer und ihr Kaufverhalten nicht auch selbst schuld an der finanziellen Misere ihres Landes? Durch ihre Gewohnheit, alles, selbst Taxifahrten und Hotdogs, mit Kreditkarte zu zahlen? Von den vielen Ratenkäufen von Flachbildfernsehern, Wochenendhäusern und Luxusgeländewagen gar nicht zu reden? Hördur Torfa wiegt den Kopf zwischen den Schultern, dann antwortet er in breitem Isländisch: „Nei!“ Klassisches Sparen hat keine Tradition in Island – die Inflation war meistens so hoch, dass es keinen Sinn hatte, Geld auf die hohe Kante zu legen, es wurde lieber ausgegeben, bevor es an Kaufkraft verliert. Die hohe Inflation sicherte jedoch die Jobs. Das ging so lange gut, bis die konservativ-liberale Regierung auch auf Anraten des IWF Mitte der 1990er-Jahre eine große Privatisierungswelle begann und Islands Banken meinten, zu Global Playern aufsteigen zu können. Die Bank Kaupthing engagierte Monty-Python-Darsteller John Cleese, um Werbespots aufzunehmen. Sie zahlte ihm Millionen – um 300.000 Einwohner zu beeindrucken.
Es funktionierte eine Weile, die Krone war stark, stabil und begehrt, doch mit der Finanzkrise kam der große Absturz. Islands Auslandsschulden sind jetzt zehnmal so hoch wie das Bruttosozialprodukt. Die Sozialfürsorge ist auf so eine Situation nicht vorbereitet. „Die Regierung und die Banken hatten dazu geraten, in Wertpapiere, in Schatzbriefe und vor allem in Rentenfonds zu investieren. Ich meine, man muss seiner Bank doch vertrauen können. Aber die Bankmanager haben mit unserem Geld ausländische Fußballclubs und Luxushotels gekauft“, berichtet Torfa.
Seine Stimme klingt angenehm, und wenn er gut drauf ist, grinst er bis über beide Ohren. Er trägt Wollpullover zur Anzughose, lässt das Auto am liebsten stehen, und wer ein Konzert von ihm besucht (bei denen er grundsätzlich barfuß auftritt), erlebt einen lustigen Abend – der Mann ist schließlich Entertainer, ein Kabarettist. Er sieht deutlich jünger aus. Zwischen seinen Liedern, in denen es um Gefühle, die richtige Einstellung zum Leben und allerlei Philosophisches geht, erzählt er meist ein paar Anekdoten. „Hördurs Musik ist alte Schule. Doch wir respektieren ihn für das, was er schon alles auf die Beine gestellt hat“, sagt Viljálmur, ein Barkeeper in Reykjavíks hippem Innenstadtbezirk 101, und fügt hinzu: „Außerdem ist er Islands einzig wirklicher Troubadour.“
Hördur Torfa ficht nicht seinen ersten politischen Kampf: Mitte der 1970er-Jahre erhielt er Morddrohungen, nachdem er sich als erster Isländer öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt hatte. Da war er schon ein bekannter Sänger. Man verprügelte ihn und attackierte ihn mit dem Messer, woraufhin er nach Dänemark floh. Erst 1991 kehrte er nach Island zurück.
Torfa ist ein Berufsquerulant. Dafür respektieren ihn viele Menschen. Er war auch dabei, als es darum ging, gegen die Zerstörung der Ostfjorde zu demonstrieren. Damals entstanden Tanks, Staudämme, Tunnel und Hochspannungsleitungen – sowie eine gigantische Aluminiumfabrik des amerikanischen Konzerns Alcoa, die mit vermeintlichem Naturstrom betrieben wird. Jetzt, wo frisches Geld ins Land kommen soll, wird in Wirtschaft und Politik verstärkt darüber diskutiert, aus Islands unbezwungener Natur noch mehr Profit zu schlagen.
Der Inselstaat ist groß, das politische Leben aber überschaubar: Das isländische Parlament hat 63 Sitze. Die letzten Wahlen sind erst anderthalb Jahre her, seitdem reagiert eine große Koalition aus Sjálfstædisflokkurinn, der konservativ-liberalen Unabhängigkeitspartei, und Samfylkingin, der sozialdemokratischen Allianz. Die Unabhängigkeitspartei ist jedoch seit 1944 durchgehend die politisch stärkste Kraft im Land und war auch fast immer in der Regierungsverantwortung. „Hier ist so viel verstaubt, ein einziges Geflecht. Wir nennen es Wikinger-Business. Nun haben wir genug davon“, beschreibt Hördur Torfa die politische Kultur und erläutert seine Strategie: „Neue Regeln aufstellen und frische Leute ins Parlament bringen. Wir brauchen eine neue Moral, wir müssen die Ethik auffrischen.“
Er selbst will nicht ins Parlament, er versteht sich als Sprachrohr der Menschen. Statt auf einer Konzertbühne steht er jetzt eben auf der Ladefläche eines Lasters. „Wollt ihr, dass die Chefs der Zentralbank zurücktreten? Wollt ihr, dass die Regierung zurücktritt? Wollt ihr Neuwahlen? Wollt ihr, dass diese Clique verschwindet?“, fragt er mit lauter, wütender Stimme ins Mikrofon, und die Menschenmenge skandiert „Já!“ zwischen den einzelnen Fragen. Seine Entschlossenheit steckt an, man fiebert förmlich mit.
Hördur spricht sich auch dafür aus, dass Journalisten und Ermittler aus dem Ausland nach Island kommen und die Vorgänge untersuchen, damit die beschuldigten Bankmanager und Politiker zur Rechenschaft gezogen werden. Ein Beitritt zur EU wird aber nicht als heilbringende Lösung favorisiert. Wie sollen 300.000 Isländer ihre Interessen, ihre einzigartige Natur, ihre Fischgründe gegen Staaten mit 40, 50, 80 Millionen Einwohnern verteidigen? Lieber blieben sie unabhängig, doch so wie jetzt kann es auch nicht weitergehen.
Aufruhr auf den Straßen, fliegende Tomaten und Tränengas aus Polizeikanonen kennen viele Isländer nur aus Filmen. Es sind historische Zeiten. In Island gibt es nicht viele Waffen, das Land hatte nie eine eigene Armee. Schon im Jahr 1000 nach Christus beschlossen die Bewohner, Volksversammlungen einzuberufen und über wichtige Entscheidungen demokratisch abzustimmen, statt sich, wie in anderen Ländern damals und noch viele weitere Jahrhunderte lang üblich, der Tyrannei eines einzelnen Königs oder Häuptlings zu unterwerfen. Dafür genossen die gewählten Politiker auch stets ein recht hohes Ansehen und das Vertrauen der Bevölkerung. Bis vor Kurzem war es völlig normal, sie morgens in der Hauptstadt Reykjavík beim Bäcker zu treffen und eine kurze Unterhaltung zu führen. Inzwischen traut sich Premierminister Geir Haarde ohne Bodyguards nicht mehr aus dem Haus. Die guten alten Zeiten wünschen sich viele zurück.