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Archiv-Artikel

Ein Puzzle aus Indizien in Madrid

Ermittlungsstand am Sonntag: ETA ist nicht mehr Hauptverdächtiger. Ein „Al-Qaida-Video“ taucht auf. Drei Marokkaner und zwei Inder in Polizeihaft

Spanischer Sprengstoff. Kein Diebstahl bekannt. Zünder, die nur auf Bestellung gefertigt wurden

AUS MADRID REINER WANDLER

Die erste Überraschung gab es am Samstagabend. „Die Polizei hat in verschiedenen Stadtteilen Madrids fünf Verdächtige festgenommen“, erklärte der spanische Innenminister Angel Ácebes auf einer Pressekonferenz. Die Festgenommenen sind drei Marokkaner und zwei Inder. Zwei Spanier indischer Abstammung wurden nach einem Verhör wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Ermittler waren auf die sieben Männer im Alter zwischen 26 und 35 Jahren gestoßen, nachdem sie ein Handy genauer analysiert hatten, das mittels Weckmechanismus den Zeitzünder einer der 13 Bomben betätigen sollte, die am Donnerstag in drei Pendlerzügen deponiert worden waren und 200 Menschen töteten und über 1.500 verletzten. ETA, aber auch die IRA und die kolumbianischen Farc hatten immer wieder Handys als Zünder benutzt.

Die zweite Überraschung kam dann kurz nach Mitternacht: Ácebes hatte wieder Neues zu berichten. Die Polizei habe nach einem Anruf beim Regionalfernsehen „Tele Madrid“ in einem Papierkorb unweit der Madrider Leichenhalle ein Video gefunden. Der Mann, der sich dort auf Arabisch zu den Anschlägen von Madrid bekennt, stellt sich als Abu Dudschan al-Afghani, Militärsprecher „von al-Qaida für Europa“ vor. Er ist bisher nie in Erscheinung getreten.

Sprach der Innenminister nach den Verhaftungen noch von „Ermittlungen in allen Richtungen“, scheint damit derzeit die einzige brauchbare Spur die des internationalen islamistischen Terrors zu sein. „Möglicherweise hat ein Teil der Verhafteten Beziehungen zu extremistischen marokkanischen Gruppen“, gab der Minister zu. Über dem zentral gelegenen Stadtteil Lavapiés, dem Viertel mit der höchsten Einwandererquote in Madrid, kreisten die gesamte Nacht zwei Hubschrauber. Polizeisirenen zeugten von den zahlreichen Durchsuchungen von Wohnungen und Geschäften. Die Chipkarte im Zeitzünder-Handy hatte die Polizei hierher geführt. Der fragliche Sprengsatz war nicht explodiert. Die Beamten stellten ihn sicher, deaktivierten die Bombe und untersuchten sie. Handy und Karte waren in einem Telefonladen, der den drei Marokkanern aus Tanger und Tetuan gehört, gekauft worden. Die drei leben seit Jahren als legale Einwanderer in Spanien. Bei den beiden Indern handelt es sich vermutlich um Geschäftsleute aus dem Kreis der Großhändler, die in Lavapiés mit Import-Export ihr Geld verdienen. Bevor auch Marokkaner und Chinesen in diesem Sektor aktiv wurden, war er fest in Händen der indischen Gemeinschaft, die seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem auf den Kanarischen Inseln, aber auch in Madrid ihr Glück sucht.

Die Ermittler versuchen ein Puzzle aus Indizien zusammenzufügen. Die Rucksackbombe, die nicht explodierte, enthielt 12,2 Kilogramm Goma 2 Eco. Das Dynamit wird in Spanien für Bergwerke hergestellt. Kein Diebstahl dieses Sprengstoffs, der vor Jahren auch von ETA benutzt wurde, ist bekannt geworden. Allerdings exportiert der Hersteller auch nach Frankreich und in die arabische Welt. Der Zünder der Bombe stammt ebenfalls aus spanischer Produktion. Bisher kam dieses Modell, das nur auf Bestellung fabriziert wird, nie bei Anschlägen zum Einsatz.

Der Zünder aus dem Rucksack ist identisch mit den sieben Zündern, die kurz nach den Anschlägen in einem gestohlenen Lieferwagen unweit des Bahnhofs von Alcalá de Henares gefunden wurden. In der Universitätsstadt westlich von Madrid wurden die Bomben in den Zügen deponiert. Die gefundenen Zünder stammen aus verschiedenen Serien. Das wiederum bedeutet, dass sie über einen längeren Zeitraum nach und nach entwendet wurden.

Auch der Lieferwagen wirft Rätsel auf. So wurde in ihm eine Kassette mit Koransuren gefunden. Experten bestätigen, dass es sich dabei um ein ägyptisches Produkt handelt, das sich an Menschen richtet, die erst anfangen, sich mit Sprache und Religion zu beschäftigen, und für eingefleischte Islamisten uninteressant sei. Augenzeugen haben beobachtet, wie aus diesem Fahrzeug drei Männer mit Halstüchern und Skimasken, die nur die Augen frei ließen, Taschen und Rucksäcke wegtrugen. Am Bahnhof selbst will jemand einen „slawisch aussehenden Mann“ beobachtet haben, der einen Rucksack im Zug abstellte.

Die Ermittlungsbehörden versuchen jetzt herauszufinden, ob die drei Marokkaner nur die Handys für die Bomben verkauften oder direkte Beziehungen zu den Attentätern unterhalten. In Zusammenarbeit mit der marokkanischen Polizei werden mögliche Verbindungen zu der radikalislamistischen Gruppe untersucht, die am 16. Mai 2003 in Marokko in einer Anschlagsserie gegen westliche und jüdische Einrichtungen 45 Menschen tötete. Ob diese Hypothese zum Erfolg führt, ist fragwürdig. Zu unterschiedlich ist die Handschrift von Casablanca, wo sich zwölf Selbstmordattentäter in die Luft sprengten, und die der Bomben von Madrid. Gerüchte, nach denen auch in den Pendlerzügen Selbstmörder am Werk hätten sein können, wurden gegenstandslos, nachdem alle Toten untersucht wurden.

Ein Papierkorb bei der Leichenhalle. Ein Videoband. Ein „Militärsprecher von al-Qaida“ spricht

Sowohl die Beschaffung der Zünder als auch die Art des Anschlags verlangen eine stabile Infrastruktur in Spanien. Es sind Al-Qaida-Gruppen, die diese hatten. Allen voran die Soldaten Gottes von Imad Eddin Bakarat („Abu Dahdah“). Doch diese Gruppen wurden nach dem 11. September zerschlagen.

Selbst die ETA-Spur ist noch nicht gänzlich vom Tisch. Eine der Ermittlungshypothesen geht von einem „Joint Venture“ verschiedener Terrorgruppen aus. In einem solchen Komplex könnten sich – so spekulierte gestern die spanische Presse – neben radikalisierten Etarras auch ehemalige Geheimdienstler aus dem Irak befinden. Die italienische Tageszeitung Corriere della Serra berichtete am Freitag gar von einer möglichen Verbindung ETAs mit dem irakischen Geheimdienst. „Unter den hunderten von ausländischen Kämpfern, die vor dem US-Angriff in den Irak zogen, waren auch rund 80 Basken.“ Unter ihnen sollen sich die beiden Fahrer des Lieferwagens befunden haben, die am 29. Februar auf dem Weg nach Madrid mit einer 500-Kilo-Bombe festgenommen wurden.

Zum strategischen Ziel des Anschlages meldete sich am Wochenende das norwegische Verteidigungsinstitut zu Wort. Die Forscher in Oslo hatten bereits im Dezember ein 42-seitiges Dokument aus dem Internet gefischt, in dem davon die Rede war, dass die Wahlen in Spanien ein günstiger Zeitpunkt für Anschläge seien. Spanien sei das schwächste Glied in der Allianz im Irak und „halte nur wenige Schläge aus, bevor es sich zurückziehen muss“.