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Archiv-Artikel

Der Spezialist für allerkleinste Menschen

Thomas Kühn, Oberarzt an einem Berliner Perinatalzentrum, der Klinik für Kinderheilkunde und Jugendmedizin im Klinikum Neukölln, Intensivstation, berichtet über seine Arbeit mit den Frühgeborenen: „Ein Drittel bis die Hälfte hat gute Chancen, sich normal zu entwickeln“

Wenn ein wochenlanger Überlebenskampf glücklich ausgeht wie bei Carmina, ist das natürlich auch für das Team und mich ein großes Geschenk. Auf unserer Intensivstation behandeln wir viele extreme Frühgeborene wie Frau Leitners Tochter, manche kommen schon in der 24. oder 25. Woche zur Welt.

Sie leiden oft an einem Bündel von Problemen: Ihre Lungen sind sehr unreif. Sie können in sich zusammenfallen oder platzen, weil das Gewebe noch nicht kräftig und steif genug ist. Die Blutgefäße im Gehirn sind noch sehr empfindlich, sie können schnell reißen und gefährliche Hirnblutungen verursachen. Das kindliche Immunsystem ist kaum vorhanden.

Ich bin zwangsläufig zu einem hochgradigen Spezialisten geworden – die Gebrechen einer 80-Jährigen wären mir inzwischen fremd. Sowohl die Dosierung der Medikamente als auch die Geräte sind völlig verschieden. Als Beispiel: Ein Tubus ist eine Röhre, durch die wir mit Sauerstoff angereicherte Luft in die Lunge leiten. Bei Erwachsenen ist dieser daumendick, bei meinen Patienten hat er mit zwei, drei Millimetern den Durchmesser eines dünnen Trinkhalms. Ich als erwachsener Mann brauche zwölf Atemzüge in der Minute, ein so kleiner Mensch atmet bis zu 70-mal.

Ich versuche, meine Patienten bei aller Hektik respektvoll zu behandeln. Ich rede mit den Kindern, wenn ich die Klappen am Brutkasten öffne, und beruhige sie durch Streicheln, bevor ich mit einer Kanüle steche. In einer Spezialklinik wie der unseren überleben heutzutage Frühgeborene, die vor wenigen Jahren unweigerlich gestorben wären. In der 26. Woche liegt die Überlebensrate bei 90 Prozent.

Ein Drittel bis die Hälfte hat gute Chancen, sich normal zu entwickeln, also ohne Behinderung aufzuwachsen. Die anderen leiden an unterschiedlichen körperlichen oder geistigen Einschänkungen. Frühchen entwickeln sich später oft verzögert, haben Konzentrationsprobleme in der Schule oder leiden an Essstörungen. So eine Entwicklung kann Familien zerreißen. Mütter haben Schuldgefühle und fragen sich: Was habe ich falsch gemacht? Väter ziehen sich zurück, und die Mutter steht mit dem Kind alleine da.

Ich muss als Neonatologe akzeptieren, dass der Tod am Anfang des Lebens sehr präsent ist. Ab 24 Schwangerschaftswochen haben Kinder eine reale Überlebenschance. In den ersten, dramatischen Minuten im Kreißsaal versuchen wir grundsätzlich, die Kinder zu stabilisieren. Die eigentlichen Probleme wie schwere Hirnblutungen treten erst in den Tagen danach auf. Wenn sich herausstellt, dass das Kind nicht lebensfähig wäre, zum Beispiel ständig beatmet werden müsste, dann beenden wir im Einverständnis mit den Eltern die Therapie. Oder wir schränken die Behandlung ein, geben beispielsweise keine hochwirksamen Kreislaufmedikamente mehr.

In seltenen Fällen entscheide ich also in einer rechtlichen Grauzone. Auf der einen Seite ist in Deutschland aktive Sterbehilfe verboten, auf der anderen Seite sind wir nicht verpflichtet, Leben um jeden Preis zu erhalten. Sorge bereitet mir, dass schon Frauen mit Mitte 20 eine Schwangerschaft künstlich herbeiführen. Ich hatte neulich eine Frau auf Station, die nach einer Sterilitätsbehandlung Zwillinge geboren hat. Anfang der 24. Woche. Die Eltern sagten: Tun Sie nichts, wir wollen keine behinderten Kinder, wir sind noch so jung. Wir haben die Zwillinge ganz normal versorgt.