: Der Soundtrack des Lebens
In der Popliteratur verewigt, von der Industrie verschmäht, lebt die analog bespielbare Kompaktkassette heute nur noch in Liebhabernischen fort. Eine Ausstellung in Hamburg widmet sich nun dem kulturellen Gedächtnis der „Generation Mixtape“
von JAN FREITAG
Es geht um Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Um Technik, Mode, Freundschaft, Musik. Nein, die Rede ist nicht von der Bravo, dem Zentralorgan für Teenienöte. Aber von jener Zeit, als dort noch „Bananarama“ vom Cover grinsten. Es geht um Mixtapes. Die nämlich, schreibt ein Herr Schneehorn im Internetforum zum Lieblingsmedium seiner Jugend, „gehörten für mich bislang zu den Achtzigerjahren“. Doch nun hat er, Mitte dreißig, sich neu verliebt und, zack!, „reflexartig fand ich mich vor meinem Onkyo-Tapedeck wieder“.
Alte Liebe rostet nicht, die Achtzigerjahre leben weiter fort, und wer die Lieblingsstücke seiner Plattensammlung einst wie heute auf Audiokassette kompiliert, der führt etwas im Schilde: So in etwa lautet die Quintessenz des Seminars „C90 – Vom Umgang mit einem technischen Speichermedium“, das am Hamburger Institut für Volkskunde stattfand. Eineinhalb Jahre lang haben sich die Doktoranden Thomas Overdick und Gerrit Herlyn mit knapp 25 Studierenden eines Tonträgers angenommen, der schon seit Jahren nur in einer Liebhabernische überlebt. Es war womöglich die erste akademische Annäherung an die Musikkassette, kurz: MC.
„Die Mixkassette ist weit mehr als ein reines Speichermedium“, fasst Seminarleiter Overdick die Forschungsergebnisse zusammen: Sie sei Kommunikationsmittel, Erinnerungsarchiv und Lebenslauf in einem. Sie ist unverwechselbar wie ein Fingerabdruck und biografisch wie ein Tagebuch. Sie hilft beim Flirten, ersetzt Briefe, verzückt Geburtstagskinder, überwindet Trennungsschmerz oder versüßt einfach nur die Autofahrt. „Soundtrack zum Leben“ nennt es einer der Fans, die in der Studie interviewt wurden.
Bundesweit haben Overdick, mit 32 Jahren, die sich selbst als Teil der „Generation Mixtape“ begreifen, und sein Kodozent Herlyn nach Teilnehmern gesucht: Menschen zwischen 20 und 40, für die das antiquierte Sounddepot mehr bedeutet als lediglich zwei Hand voll Songs pro Spur. Anfängliche Sorgen, ob die Resonanz für eine repräsentative Erhebung genügen würde, schlugen bald um in Euphorie. „Es haben sich so viele gemeldet“, freut sich Gerrit Herlyn, „wir konnten gar nicht alle befragen.“
Für insgesamt 80 fand sich dann doch Zeit. Nur unwesentlich mehr Männer als Frauen verschiedener Altersstufen berichteten in langen Gesprächen über ihre Erfahrungen mit der rauschenden Ware. Am Ende stand ein Textkorpus, der fast 900 Seiten umfasste. Hinzu kamen 120 E-Mails und Briefe, gespickt mit oft intimen Bekenntnissen akustisch substituierter Partnersuche. Dieses enorme Mitteilungsbedürfnis, staunt Overdick, „war eigentlich die erstaunlichste Erkenntnis“ der Studie.
Die 21 aufschlussreichsten persönlichen Geschichten, welche die Seminarstudie von Overdick und Herlyn zutage förderte, werden nun bis Ende Juni unter dem Titel „KassettenGeschichten“ im Hamburger „Museum für Kommunikation“ ausgestellt: multimedial, wie das sich heute gehört. Die Interviewten wurden fotografiert, ihre Lieblingstapes sind zu hören, die Kernaussagen zu lesen.
„Retro, Retro allenthalben“, kritisiert besagter Herr Schneehorn im Internet diesen Ansatz. Und tatsächlich könnte man, angesichts des andauernden Hypes um vergangene Jahrzehnte, dahinter die eigentliche Motivation der Ausstellungsmacher vermuten. Doch dem sei nicht so, betonen die Experten. Kern des Seminars, so Gerrit Herlyn, sei schließlich die kulturwissenschaftliche Technikforschung gewesen: Es gehe um Schnittpunkte zwischen Erinnerung und Technologie, um biografische Speichermedien, Theorien des Schenkens, Kommunikationsmodelle und Sachkulturforschung. Vor allem aber „um die Menschen hinter den Tapes“, so Herlyn.
Um solche wie die 27-Jährige, die Männern statt Fotos lieber Mixtapes schickte. Wie eine Endzwanzigerin, die sich stets den Kopf zerbricht, ob sie mit der Musikauswahl zu wenig oder zu viel von ihrer Liebe preisgibt. Wie der 44-Jährige, dem beim Hören wieder alte Zeiten ins Gedächtnis kommen. Oder dem halb so alten Jugendlichen, der CD-Brenner verachtet und meint: Eine „Kassette stirbt irgendwann“.
Vergänglichkeit, Wärme, Ehrlichkeit – das alles vermissen die Probanden in der digitalen Welt und bewahren sich mit ihren Mixkassetten ein Stück analoger Verletzlichkeit. Kassettenmixer sind für Seminarleiter Overdick „bewusste Nutzer der Technik“, keine Konsummarionetten.
Wie lange sie das noch sein dürfen, das steht jedoch in den Sternen. Derzeit mag kein Hersteller für die Zukunft der Magnetbänder garantieren. Es soll sie zwar noch ein paar Jahre lang geben, sagt Jean-Paul Eekhout, Marketingchef beim Marktführer TDK. Doch „bahnbrechende Entwicklungen in der analogen Technik werden nicht mehr erwogen“. Auch Johannes Lerch vom BASF-Nachfolger Emtec versichert, die Einstellung des Segments sei zwar nicht geplant, „doch wir halten es nur bei, wenn die Nachfrage da ist“.
Diese Nachfrage aber nimmt seit Jahren ab. 24 Millionen Leerkassetten verkaufte die Branche hierzulande im Vorjahr. 1991, als der Absatz seinen Höhepunkt hatte, waren es noch über sechsmal so viel. Auch bespielt befinden sich die Tonträger im Sturzflug. Beherrschten sie Mitte der Achtzigerjahre noch 60 Prozent des Marktes, so liegt der Anteil nun mit gut 20 Millionen Kopien nur noch bei einem Zehntel der einstigen Zahl.
Parallel dazu ist auch die Hardware auf dem absteigenden Ast. Im Pkw machen sich CD-Player breit, der Walkman ringt mit tragbaren Digitalvarianten à la Minidisk und MP3. Das separate Kassettendeck bezeichnet Philips-Sprecher Klaus Petri als „Auslaufmodell“. Daheim sorgen einzig Kompaktanlagen – der Vollständigkeit halber – für Bestandsschutz.
1963 hatte der Technikmulti, der längst aus dem MC-Geschäft ausgestiegen ist, die neue Abspieltechnik auf der IFA Berlin präsentiert. Klein, handlich und billig stand es spätestens nach der Erfindung des Walkmans 1979 und der Beschallungsoffensive im Auto stellvertretend für Mobilität und Jugend – auf Kosten des Tonbandgeräts, welches durch den Kassettenrecorder vom Markt verdrängt wurde.
Doch was die Kompaktkassette dem Vorgänger antat, zahlte die Compactdisc beiden heim: Dank Klangbrillanz und unkomplizierter Handhabung startete sie 1982 ihren Siegeszug um die Welt. So effizient, dass selbst Hartmut Spiesecke vom Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft betont: „Analoges Kopieren ist für uns kein Problem mehr.“ Normalerweise ruft die Dachorganisation der Musikverlage am deutschen Markt angesichts grassierender Piraterie alljährlich den Notstand aus. Doch von angeblich 2,5 Milliarden Euro hohen Verlusten durch Raubkopien entfallen nur noch 50 Millionen auf traditionelle Kassettenduplikate.
Kein Wunder, denn die CD hat alle Defizite sukzessive behoben. Sie ist als Rohling deutlich billiger als die MC, erreicht mit 90 Minuten locker deren Speicherplatz, und sie ist auch immer wieder neu bespielbar. Zudem gibt es kaum noch Computer ohne integrierten Brenner.
Was bleibt, ist Nostalgie. Die versorgt eine beharrliche Fangemeinde mit Kampfkraft, wie das Hamburger Forschungsprojekt beweist. Ein anderes Unternehmen lautet „rettet die mixkassette“. Zwei Studierende aus Hamburg haben unter diesem Titel Anfang 2002 einen unkommerziellen Kettenbrief in Umlauf gebracht. Im Bekanntenkreis versandten sie handgemischte Tapes und forderten die Adressaten per Flyer zur Nachahmung auf. Jeweils 25 Stück haben Daniela Schuster und Kristian Menke seit Umsetzung der Stammtischidee erhalten. „Aus ganz Deutschland, Österreich, sogar Südafrika“, erzählt der 27-Jährige. Mittlerweile wurde er selbst angesprochen, ob er nicht bei „so einer Mixtapeaktion“ mitmachen wolle. „Ich glaube, wir schwimmen da auf einer Welle.“
Das scheint tatsächlich so. Republikweit gibt es Partys oder Radiosendungen rund um die 2,81 Millimeter breiten Bänder. Daneben haben jüngere Autoren, von Stuckrad-Barre über Christian Gasser, Nick Hornby und Karin Duve bis hin zu Max Goldt, sie literarisch verewigt. In Subkulturen wie der HipHop- und der Reggae-Szene sind Mixtapes bis heute wichtige Verbreitungsmedien geblieben. Eine „Kassettentanke“ im Herzen Hamburgs bietet die Möglichkeit, dort auflegende DJs mitzuschneiden. Und im Internet weist die Suchmaschine Google rund 62.000 Einträge aus, und das WWW ist voll von Tracklists, Tauschbörsen und Coverdownloads. Das Wirkungsprinzip des Mixtapes, dozieren die Volkskundler Overdick und Herlyn, oszilliert irgendwo zwischen „stiller Post und Kassiber“.
Als Letzteres firmierte sie vor allem in der Ex-DDR. Die sündhaft teuren Kassetten waren die „einzig zugänglichen Tonträger, deren Produktion, Vervielfältigung und Verteilung auch außerhalb von kontrollierten Zusammenhängen möglich war“, stellt die Berliner Musikforscherin Susanne Binas fest. Der Radius von Popmusik, stellt die Humboldt-Dozentin fest, „ist durch die Musikkassette erheblich vergrößert worden“.
Nur: Der Markt weiß solch historische Verdienste nicht zu würdigen. So ist ja schon die LP, ein Tonträger aus der Vorkriegszeit, auf dem kommerziellen Abstellgleis gelandet. Doch gegen alle Prognosen weist das Vinyl seit Jahren als einziger Tonträger neben der DVD kleine, aber merkliche Wachstumsraten auf. Richtige Fans sind eben treu.
Die Ausstellung „KassettenGeschichten. Von Menschen und ihren Mixtapes“ im Hamburger Museum für Kommunikation läuft vom 22. Mai bis 29. Juni. Mehr Informationen dazu im Internet unter www.kassettengeschichten.de