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Archiv-Artikel

Das Kameraauge Gottes

Was das Blut bezeugt: Nun kommt Mel Gibsons umstrittener Film „Die Passion Christi“ also in die Kinos – und zarte Gemüter müssen ganz tapfer sein. Der Film schwelgt in der Unbarmherzigkeit des christlichen Schuldzusammenhangs. Frappierend, wie sehr sein Fundamentalismus den Nerv der Zeit trifft

Leidenstransfer?Es bleibt die Frage, was es mit diesem Übermaß an Gewalt auf sich hat

VON CRISTINA NORD

In „Braveheart“, Mel Gibsons 1995 entstandenem Epos über den schottischen Freiheitskämpfer William Wallace, ist alles schon da: der Furor, die Unbedingtheit, die Abwendung von dem, was Politik, Verhandlung und Diskurs sein könnten. Der von Gibson gespielte Protagonist wird von seinen Bewunderern als „uncompromising man“ gefeiert, als „unbeugsamer Mann“. Gegen die Ränkespiele der schottischen und englischen Edelmänner führt er seinen gewaltigen Leib ins Feld. In den Schlachtszenen sucht die Kamera die Nähe von versehrten Körpern, den Schock der blutigen Schnittfläche, und als Wallace schließlich in der Streckfolter gequält wird, nimmt er, zwischen Himmel und Erde aufgespannt, die Körperhaltung von Jesus am Kreuz ein. Die Kamera duckt sich dazu in die gleiche Untersicht, mit der sie jetzt auf James Caviezel als Jesus blickt.

„Die Passion Christi“ führt etwas fort, was Mel Gibson schon seit langem betreibt – und nicht nur er, sondern viele Regisseure, die Kriegs- und Actionfilme drehen, indem sie möglichst dicht und möglichst oft an Wunden und Körper der Kombattanten herangehen. „Braveheart“, Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“, John Woos „Windtalkers“, Antoine Fuquas „Tears of the Sun“ oder Anthony Minghellas „Cold Mountain“ glauben, dem Wesen von Krieg und Bürgerkrieg nahe zu kommen, indem sie versehrte Körper aus der Nähe zeigen. Je häufiger ein von Kugeln, Bajonetten oder Lanzen perforierter Leib zu sehen ist, umso wahrhaftiger scheint die Darstellung – als bezeugte das Blut, dass es so und nicht anders war.

Es spricht einiges dafür, dass diese Bildlogik ein christliches Unterfutter hat. Susan Sontag konstatiert dies für Kriegsfotografien, die sich an das Motiv der Pietà oder der Kreuzabnahme anlehnen: „Wenn man in Fotos aus Kriegs- oder Katastrophenszenarien gelegentlich den Pulsschlag der christlichen Ikonografie zu spüren glaubt, so ist das keine sentimentale Projektion.“ Und der Historiker Valentin Groebner notiert: „Moralische Erzählungen sind bis heute auffallend häufig organisiert um den Körper eines nackten blutigen Mannes als Wahrheitsfigur.“ In diesem Sinne beschreibt „Die Passion Christi“ zwei Bewegungen: In einem ersten Schritt führt der Film die Gewaltdarstellungen des gegenwärtigen Überwältigungskinos zu ihrem religiösen Ursprung zurück. In einem zweiten Schritt dann entfesselt er sie mit einer bisher nicht gesehenen Wucht.

Denn mit „Die Passion Christi“ überbietet Mel Gibson den Furor von „Braveheart“. Jesus’ Festnahme im Garten Gethsemane, die Verhöre durch die Hohepriester und Pontius Pilatus und die Kreuzigung bilden den Hintergrund für eine monotone und kaum je abreißende Folge der Torturen. Gefilmt ist dies in einer nicht minder monotonen Folge wiederkehrender Einstellungen. „Die Passion Christi“ läuft so mechanisch wie ein Räderwerk. Man sieht den grölenden Mob – Schnitt – das zum Schlag bereite Folterwerkzeug – Schnitt – im Close-up das blutüberströmte Gesicht Jesus’, den nächsten Hieb erwartend – Schnitt – das von sadistischer Verzückung gezeichnete Gesicht des römischen Folterknechts – Schnitt – die schreckstarren Gesichter Marias und Maria Magdalenas. Dazwischen montiert werden die Resultate der Folter: die Striemen an Rücken und Brust, freigelegte Rippen in Nahaufnahme und andere Entstellungen mehr.

Dazu gesellen sich einige Regieeinfälle, in denen die Dialektik von anklagender Darstellung und sadistischer Fantasie offen zu Tage tritt. So wie Emma auf dem Höhepunkt der Anti-Porno-Kampagne zur vermeintlichen Abschreckung ein Bild abdruckte, auf dem ein schwarzer Balken die Interaktion einer nackten Frau und eines Ebers nur notdürftig bedeckte, so weidet sich auch Gibson an den Details der Folter, die er doch verdammt – etwa dann, wenn Jesus schon ans Kreuz geschlagen ist, das Kreuz aber noch auf dem Boden liegt, die Vorderseite dem Himmel zugewandt. Die Soldaten wollen es umdrehen, sie wuchten es hoch und wenden es, bevor sie es niedersausen lassen. Gibson spielt mit dem Suspense, insofern der Betrachter bangen muss: Wird Jesus unter dem Kreuz im Staub begraben? Oder wird der Sturz doch noch in letzter Sekunde aufgefangen?

Gibsons Filmsprache erspart sich jedes Raffinement. Dem Teufel kriecht ein Wurm in die Nase, bevor eine Schlange unter seinem Gewand hervorkommen wird. Die Rückblenden sind auf eine Weise mit der fortlaufenden Handlung verkettet, die zunächst noch als visuell stimmig erscheinen mag, die sich aber bald in das Räderwerk des Überdeutlichen einfügt: Das bestimmende Bildelement – ein Fuß zum Beispiel, ein Kopf im Profil oder eine enge Gasse – kommt jeweils vor wie nach dem Schnitt zur Geltung. A. O. Scott, der Kritiker der New York Times, hat es so formuliert: Noch nie habe er einen aus religiösem Eifer heraus gedrehten Film gesehen, der so „utterly lacking in grace“ sei. Der Begriff „grace“ hat viele Bedeutungen. Er heißt „göttliche Gnade“, aber auch „Anmut“, „Liebreiz“, „Tugend“ oder „Würde“. Wenn Gibson gelegentlich mit Pier Paolo Pasolinis „Das erste Evangelium – Matthäus“ (1964) kokettiert, indem er hervorhebt, dass „Die Passion Christi“ in der süditalienischen Basilicata, mithin in der Nähe von Pasolinis damaligen Drehorten, aufgenommen wurde, vergreift er sich im Ton: Schon die ersten Minuten von Pasolinis Film entfalten in dem stillen Blickwechsel zwischen Maria und Josef mehr Schönheit als „Die Passion Christi“ in ihren zwei Stunden.

Aber es geht Gibson ja nicht um Barmherzigkeit, um Anmut oder Milde. Im Gegenteil. Die Kamera will auf beiden Seiten sein: auf der des Geschundenen und auf der des Schinders. Sie schaut aus Jesus’ Perspektive auf den in der Luft erhobenen Hammer, und nach dem Schnitt schaut sie – gewissermaßen mit den Augen des Hammers – auf die Hand, durch die gleich der Nagel getrieben wird. Der Betrachter wird dabei in eine Position gezwungen, in der er die Schläge zugleich austeilt und erleidet. Und vielleicht ist das gerade nicht blasphemisch, wie viele Kritiker des Films äußern, sondern nur konsequent. Denn mit dieser Doppelperspektive macht Gibson etwas sichtbar, was sich als die unerbittliche Seite des christlichen Glaubens beschreiben lässt.

Wenn Jesus aufgrund unserer Sünden starb und wir durch sein Opfer erlöst werden, dann sind wir in einem Schuldzusammenhang gefangen, aus dem es kein Entkommen gibt. Was zunächst barmherzig scheint – der Gott verlangt kein Opfer von den Menschen, sondern opfert seinen eigenen Sohn –, schlägt in Unbarmherzigkeit um, insofern es jeden ohne Ansehen seiner Taten in das Netz einer übermenschlichen Schuld einwebt. „Die Passion Christi“ nun schwelgt in dieser Unbarmherzigkeit.

Es bleibt die Frage, was es mit dem Übermaß an Gewalt auf sich hat. Vordergründig mag es Gibson darum gehen, die Passionsgeschichte aus dem milden Lichtkegel der Bibelfilme und der Renaissancegemälde herauszurücken – im Namen einer Wahrhaftigkeit, die der Regisseur so naiv wie hartnäckig für seinen Film beansprucht und die so merkwürdige Effekte zeitigt wie das italienisch ausgesprochene Latein.

Nun hat die drastische Darstellung des Martyriums eine Tradition, die im europäischen Mittelalter wurzelt. Man denke an Matthias Grünewalds Isenheimer Altar aus dem frühen 16. Jahrhundert, in dessen Mittelpunkt ein von vielen kleinen Schnittwunden gezeichneter Schmerzensmann steht. In den bolivianischen Anden entstand etwas zeitversetzt eine ähnliche Figur: der Jesús sangrante, der blutüberströmte Jesus. Indigene Maler, von Missionaren bekehrt, statteten den Gekreuzigten mit zahlreichen Wunden aus. Den Hintergrund dafür bildete eine Art Leidenstransfer. Was die spanischen Kolonialherren den Kolonialisierten antaten, das verschaffte sich einen Ausdruck über den Umweg der Christusdarstellung.

Im Europa des 15. Jahrhunderts wurde der „leidende und blutende Leib Christi“, so Valentin Groebner, „in lautstarken, bildergestützten und buchstäblich multimedialen Predigten, in Prozessionen, in Passions-, Oster- und Fronleichnamsspielen spektakulär visualisiert“. Auffällig dabei sei die Nähe zwischen der Darstellung der Leiden Christi und der „Inszenierung städtischer Körperstrafen“. Die Werkzeuge mittelalterlicher Gerichtsbarkeit lehnten sich „an die arma Christi der Kreuzigungsdarstellungen“ an, „wo die Nägel, Dornen usw. mnemotechnisch für die Episoden des Passionsgeschehens standen“. Groebners Resümee leuchtet ein: „In den detaillierten religiösen Darstellungen von Peinigung und physischem Schmerz wurde auf sehr reale zeitgenössische Gewalt verwiesen.“

Wenn nun „Die Passion Christi“ die Verwandtschaft mittelalterlicher Kreuzigungsdarstellungen sucht, so stellt sich die Frage, was das tertium comparationis ist – also dasjenige, was der vergangenen Gewalt heute analog wäre. Dieses tertium comparationis jedoch muss diffuse Behauptung bleiben, es sei denn, man machte sich eine manichäische Weltsicht zu Eigen. Gibson insinuiert es dennoch, und darin wird sein Fundamentalismus offenbar. Frappierend ist, wie sehr er damit einen Nerv trifft: In den USA hat „Die Passion Christi“ bis zum vergangenen Wochenende 264 Millionen Dollar eingespielt (Starttermin war der 25. Februar); der Kritiker der New York Times, A. O. Scott, klagt inzwischen über Hassmails, deren Absender die Kritik am Film als Affront wider die Bibel auslegen. Eine seltsam freizügige Interpretation der Transsubstantiation ist das, gerät doch in dieser Gleichung der Film zur Schrift. Es fehlt nicht mehr viel, und Gibson wird Gott (die einzigen exzentrischen Augenblicke in der Filmsprache sind denn auch solche, in denen die Kamera sich so weit vom Boden wegzoomt, dass ihr Blick die subjektive Perspektive Gottes nachahmt).

„Die Passion Christi“ ist so deprimierend wie Gunther von Hagens’ plastinierte Leichen oder Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Wer sich von Gibsons Film irgendeine Art der Erkenntnis, eine Offenbarung gar, verspricht, ist so naiv wie einer, der eine Schädeldecke aufschneidet, weil er Gedanken lesen will.